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Thessaloniki: Auf den Spuren der jüdischen Gemeinde

Chrysa Vachtsevanou
21. Oktober 2023

Elena Chouzouris Roman "Onkel Avraam bleibt für immer hier" befasst sich mit der Zeit vor, während und nach dem Holocaust in Griechenland. In Thessaloniki ergründet die Hauptfigur die jüdische Familiengeschichte.

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Menschen mit weißen Luftballons, die die Aufschrift POTE XANA ("NIE WIEDER") tragen, bei der Gedenkveranstaltung zum 76. Jahrestag der Deportation von 50.000 jüdischen Griechen 2019.
"POTE XANA" ("NIE WIEDER"): Der Gedenkmarsch 2019 führte zum Bahnhof Thessalonikis. Von dort starteten am 15. März 1943 erstmals die Deportationszüge.Bild: Takis Tsafos/picture alliance

Ein Stadtplan von Thessaloniki aus dem Jahr 1930, einige sephardische Kochrezepte (Sepharden sind im Mittelalter von der Iberischen Halbinsel vertriebene Juden und ihre Nachfahren, Anm. d. Red.) und ein Notizblatt mit Jahreszahlen: Diese Erbstücke von der Großmutter Luna bringen Enkelin Alisa zusammen mit drei Fotografien in die zweitgrößte Stadt Griechenlands. Dort begibt sie sich auf die Suche nach Spuren ihrer Familie. Alisa promoviert in Geschichte in Tel Aviv.

Gespaltene Erinnerungen

Der Roman von Elena Chouzouri "Onkel Avraam bleibt für immer hier" erzählt eine bewegende Geschichte über die jüdische Gemeinde und das Leben in Thessaloniki vor dem Zweiten Weltkrieg, aber auch über die tragischen Ereignisse des Holocaust und den jüdischen Widerstand.

Elena Chouzouri: Den Leser nicht vergessen lassen 

Hauptfigur Alisa schreibt ihre Doktorarbeit über Avraam Benaroya. Er war eine der Schlüsselfiguren der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Griechenlands im Jahr 1918, der Vorgängerin der kommunistischen Partei Griechenlands. Tätig war Benaroya in Thessaloniki, wo auch die Großmutter von Alisa lebte. Nach deren Tod nimmt sie unter anderem drei Fotos zum Anlass, dorthin zu reisen. Sie möchte die Geheimnisse ihrer Familiengeschichte erforschen.

Bei der Gedenkveranstaltung zu 76 Jahre Holocaust in Thessaloniki wurden in einen Eisenbahnwaggon Hyazinthen gesteckt.
In diesen Waggons wurden die jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner Thessalonikis deportiertBild: Takis Tsafos/picture alliance

"Man kann nicht über die Vergangenheit sprechen, als wäre man dort gewesen", betont die Autorin Elena Chouzouri. "Man war nicht dabei - also muss man Erzähltechniken finden, die den Leser nicht vergessen lassen und ihn in etwas hineinziehen, das eine gewisse Plausibilität hat, ohne real zu sein. Meine eigenen Themen zwingen mich also dazu, hybride, postmoderne Methoden anzuwenden." 

Die Autorin verwebt fiktive Narrative, eigene Erlebnisse und Primärquellen: "Im Buch lesen wir zum Beispiel die vollständigen Bekanntmachungen, die die Nazi-Besatzungstruppen in Thessaloniki an den Straßen aufgehängt hatten und die von den vorbeigehenden Einwohnerinnen und Einwohnern Thessalonikis gelesen wurden. Es gibt also eine Intertextualität", erklärt Chouzouri, die mehrere Romane und Gedichtbände zum Thema Flucht, Migration und Identität veröffentlicht hat.

Von der größten jüdischen Gemeinde zur beinahe kompletten Auslöschung

1940 zählte Thessaloniki noch die größte jüdische Gemeinde ihrer Zeit in Griechenland: Mit rund 50.000 Mitgliedern machte sie etwa ein Viertel der Bevölkerung der zweitgrößten griechischen Stadt aus. Der Gemeinde gehörten hauptsächlich Sepharden an, Nachkommen jener jüdischen Gemeinschaft, die im 15. Jahrhundert aus Spanien vertrieben wurden und sich später im Osmanischen Reich angesiedelt haben, wozu auch Thessaloniki gehörte.

Blick auf einen Stapel alter Reisepässe von jüdischen Menschen aus Thessaloniki.
Reisepässe jüdischer Menschen aus ThessalonikiBild: Wassilis Aswestopoulos/IMAGO

Die nationalsozialistischen Besatzer vernichteten die Gemeinde nahezu vollständig. Jüdinnen und Juden mussten Zwangsarbeit verrichten, in Ghettos hausen und ab 1943 deportierte man sie vor allem ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Nur 1.950 Mitglieder der jüdischen Gemeinde überlebten, die anderen 96 Prozent wurden von den Nazis ermordet. 

Elena Chouzouris Roman ist dreigeteilt

Elena Chouzouri im Porträt. Sie lächelt in die Kamera.
Die griechische Schriftstellerin Elena ChouzouriBild: privat

"Thessaloniki ist eine sehr romanhafte Stadt", sagt Elena Chouzouri. "Ich fühlte mich verpflichtet, all das zu schreiben, um es selbst auch zu entdecken." Der Roman ist aufgeteilt in "Davor", "Damals" und "Danach" - also in das Leben vor dem Holocaust, der Holocaust und die Zeit danach. Durch die Augen von Alisa entdecken die Leserinnen und Leser die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Thessaloniki, einschließlich des Niedergangs der einst blühenden jüdischen Gemeinschaft.

Die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung des Buches "Onkel Avraam bleibt für immer hier" fällt nun mit dem Gedenken an die Deportation der griechischen Juden vor 80 Jahren zusammen.

Elena Chouzouri: "Onkel Avraam bleibt für immer hier". Verlag der Griechenland Zeitung, Athen 2023. 214 Seiten.

Dieser Text wurde gegenüber seiner Ursprungsfassung bearbeitet.