Team Ineos: Das Streben nach Perfektion
15. Juli 2019Emanuel Buchmann tropft der Schweiß von der Stirn. Sein Blick ist müde. Die Strapazen der Etappe sind deutlich sichtbar während er sich auf der Rolle vor dem Teambus ausfährt. "Das war richtig hart", sagt Emanuel Buchmann im ARD-Interview und meint damit die rennentscheidende Szene, als sich ein kleines Feld auf der Windkante vom Rest absetzen konnte. "Da war ich voll am Limit. Aber ich war vorne mit dabei." Er lächelt, schließlich hat er sich durch diese Aktion auf Rang fünf im Gesamtklassement vorgearbeitet. Im richtigen Moment vorne gewesen zu sein, das ist für Buchmann erkennbar ein Glücksfall. Für Team Ineos ist das keine Frage von Glück oder Pech. Vorne zu sein, ist für die Fahrer des britischen Rennstalls eine Selbstverständlichkeit.
Wie schon während der gesamten Tour de France fahren die Profis in Schwarz-Weinrot auch auf der 10. Etappe von Saint-Flour nach Albi an der Spitze des Rennens. Selbst wenn sie nicht das Gelbe Trikot und damit die Verantwortung für das Rennen haben. Selbst auf einer mäßig anspruchsvollen Etappe wie dieser. Selbst wenn es noch 37 Kilometer bis ins Ziel sind. Als das amerikanische Team Education First bei Seitenwind überraschend eine Windkante eröffnet, eine von den Fahrern gefürchtete Rennsituation, sind die Fahrer von Ineos, wie das frühere Sky-Team nach einem Sponsorenwechsel nun heißt, da. Sie erkennen die Chance und nutzen sie, fahren mit Vollgas von vorne. Auch dank der Unterstützung anderer Teams reißen im Wind schnell große Lücken ins Peloton. Einige Mitfavoriten auf den Gesamtsieg geraten ins Hintertreffen, verlieren bis ins Ziel viel Zeit.
Dass am Ende mit Etappensieger Wout van Aert zum vierten Mal das Jumbo-Visma-Team jubelt, ist für Ineos nur eine Randnotiz. Denn was eigentlich zählt: Die Doppelspitze mit Geraint Thomas und Egan Bernal rückt im Gesamtklassement geradezu planmäßig schon vor den ersten echten Bergetappen näher ans Gelbe Trikot heran. Mit Platz zwei und drei hinter dem führenden Franzosen Julian Alaphilippe (der Ambitionen auf den Toursieg weiter verneint) haben sie schon jetzt die Basis für einen weiteren, durchaus wahrscheinlichen Tour-Triumph gelegt.
Eine Fahrradkette für 6700 Euro
Wie ist das möglich? Wie kann eine Mannschaft in einer Sportart, die so vielen Eventualitäten wie Wetter, Wind, Tagesform, Allianzen, Krankheiten, Defekten, Stürzen oder taktische Konstellationen unterliegt, nur so verlässlich Erfolge abliefern? Die Antwort ist simpel: Sie kümmern sich um jedes Detail, nehmen es ernst und stellen die Frage, wie man es verbessern könnte. Dieses penible, wissenschaftliche und ehrgeizige Streben nach Perfektion verdient Respekt.
Ein paar Beispiele: Team Ineos tüftelte vor der Tour mit Experten an einer speziellen Beschichtung der Fahrradketten. Diese soll einen um 10 Watt geringen Leistungsaufwand des Fahrers bringen - so etwas entscheidet in einem Einzelzeitfahren über Sieg und Niederlage. Die Beschichtung soll rund 6700 Euro kosten und nur für einige Kilometer halten, aber sie bringt eben einen kleinen Vorteil. Ähnliches gilt auch für den neuen Zeitfahranzug, auch er soll fünf bis zehn Watt einsparen, sagt Carsten Jeppesen, Verantwortlicher für technische Innovationen bei Team Ineos, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Jeppesen schaffte zudem für die Tour leichtere Laufräder der deutschen Marke Lightweight an. Die gehören zwar nicht zu den Sponsoren des Teams, doch der Teametat von rund 40 Millionen Euro lässt eben einen solchen Spielraum zu. Und ein paar Gramm Gewichtsersparnis bei den Laufrädern bringen am Berg schnell ein paar Sekunden im Kampf um Gelb.
Man schläft auf mitgebrachten Matratzen
"Ich denke, dass viele Teams inzwischen alle Aspekte der Leistungssteigerung beleuchten", antwortete Teamchef David Brailsford beim Tourstart in Brüssel auf die Frage der DW, wie Team Ineos es schafft, mit den viel beschworenen "Marginal Gains" (zu Deutsch: den kleinen Zugewinnen) der Konkurrenz voraus zu bleiben. "Um einen Vorteil zu haben, muss man wirklich an allen Details arbeiten."
Und das tun sie eben. Wie beschrieben bei Rad und Kleidung, unter anderem mit Tests im Windkanal. Bei der Ernährung und beim Training, in dem sie mit Tim Kerrison einen Trainer beschäftigen, der aus Ruder- und Schwimmsport neue Erkenntnisse in die Radszene brachte. Beim Cool down, also dem regenerationsfördenden Ausfahren nach den Etappen, das inzwischen fast alle Teams übernommen haben. Bei der Verpflichtung neuer Fahrer, die auch auf Basis von Leistungsdaten ausgewählt werden sollen. Ja und sogar, indem sie eigene Matratzen und Kissen für einen besseren Schlaf ihrer Fahrer in die täglich wechselnden Teamhotels bringen.
Manchmal "nahe am Zusammenbruch"
Möglich, aber nicht erwiesen ist, ob Team Ineos auch im medikamentösen Bereich, nun ja, jedes Detail optimiert. Die Gerüchte und Verdächtigungen sind so alt wie der Rennstall selbst. Eine Reihe sogenannter therapeutischer Ausnahmegenehmigungen für eigentlich verbotene Substanzen sind inzwischen bekannt, dazu eine nicht schlüssig erklärte Medikamentenlieferung an Bradley Wiggins, Doping-Ermittlungen gegen die ehemaligen Fahrer Jonathan Tiernan-Locke und Sergio Henao und nicht zuletzt die seltsame Salbutamol-Affäre des Chris Froome - auch deshalb kassierte die Mannschaft in den letzten Jahren Buhrufe und Pfiffe bei der Tour de France.
Der Verdacht ist also zum ständigen Begleiter des Teams geworden, zu recht oder zu unrecht, das wird vielleicht nur die Zeit zeigen. Doch letztlich sind auch die Ineos-Profis alles Menschen, betont Domestike Luke Rowe im DW-Interview: "Es gibt Momente, in denen sind wir nahe am Zusammenbruch." Nahe dran, aber eben nicht mehr. Sechs der letzten sieben Tour-Auflagen gewann diese Mannschaft. 2014 verhinderte ein Sturz von Chris Froome die ungebrochene Dominanz. In diesem Jahr können sie sogar das kompensieren: Nach dem bösen Crash von Froome beim Critérium du Dauphiné hat das Team noch immer zwei Sieganwärter. Und so scheint es, als könnte allerhöchstens eine teaminterne Konkurrenzsituation zwischen Egan Bernal und Geraint Thomas noch den siebten Toursieg für das britische Team verhindern. Aber vermutlich haben sie bei Ineos auch dieses Detail schon bedacht.