"Tarnen und Täuschen" - die letzte Einheit der DDR-Armee
15. November 2010Dicker schwarzer Rauch qualmt aus dem Auspuff des tschechischen Tatra-Dieselmotors, als sich das tiefer gelegte, achträdrige Militärfahrzeug in Bewegung setzt. Auf dem Dach des Fahrzeugs scheint die olivgrüne Rakete zum Abschuss bereit. Aber als das Gefährt langsam aus dem Hangar rollt, drehen sich die mannshohen Räder nicht. Auch der Aufbau passt nicht ganz auf das Fahrgestell.
"Das ist die Attrappe eines mobilen Scud-B-Raketenwerfers", erklärt Harald Kaiser, der Technische Leiter auf dem Bundeswehrstützpunkt in Storkow bei Berlin. Es handelt sich um den Nachbau einer alten taktischen Rakete aus der Sowjetunion. Die Staaten des Warschauer Paktes hätten dieses Waffensystem genutzt, sagt Kaiser. Oft sei es auch an arabische Staaten verkauft worden.
Die Nachbauten der Scud-B hätten während des zweiten Golfkriegs in den frühen 1990er-Jahren eine gewisse "Berühmtheit" erlangt, erläutert Hauptmann Kaiser: "Der irakische Diktator Saddam Hussein führte mit Hilfe der Attrappen die Streitkräfte der USA und ihre Verbündeten in die Irre: Sie bombardierten die Täuschziele massenweise. Später feuerte Saddam Hussein dann echte Mittelstreckenraketen in Richtung Israel und Saudi-Arabien ab."
Wendepunkt Golfkrieg
Dass die Golfkriegs-Allianz auf die Attrappen hereinfiel, war wie eine neue Daseinsberechtigung für die Storkower Einheit. Nach der deutschen Wiedervereinigung sollte sie eigentlich, wie die gesamte NVA, aufgelöst werden. Aber eines Tages tauchten auf dem Stützpunkt Spezialisten der NATO auf und fragten, ob die Scud-Attrappen für Saddam Hussein hier gebaut worden seien. "Wir hatten nichts damit zu tun", sagt Harald Kaiser. "Aber die Experten der NATO waren wirklich beeindruckt, als wir ihnen einen Scud-Raketenwerfer zeigten, den wir für die NVA gefertigt hatten."
Mehr als nur Spielzeugwaffen
Heute heißt die alte NVA-Einheit "Technologiestützpunkt Tarnen und Täuschen". Im Vergleich zu früher ist die Einheit geschrumpft: Nur noch drei Soldaten und neun zivile Techniker arbeiten in Storkow. Um das Waffenarsenal, wäre es denn echt, würden sie allerdings Generale beneiden: Neben den Scud-Raketenwerfern gibt es noch originalgetreue Nachbauten einer russischen Boden-Luft-Rakete, etliche Panzertürme von russischen T-72 Panzern und gepanzerte Fahrzeuge, wie sie von den Staaten des Warschauer Pakts genutzt wurden. Seitdem die Bundeswehr den Stützpunkt übernommen hat, sind außerdem Modelle des US-amerikanischen Raketenabwehrsystems "Patriot", der deutschen gepanzerten Fahrzeuge "Marder" und "Wiesel" und des Raketenwerfers "Roland" hinzugekommen.
"Die Modelle bestehen größtenteils aus glasfaserverstärktem Plastik", sagt Oberleutnant Steffen Köhler. Er ist der Leiter der Storkower Dienststelle. Zusätzlich ist Kupfer in die Kanonen und Räder der Attrappen eingewoben. Wird dieses Kupfer erwärmt, "entstehen originalgetreue Wärmebildsignaturen der jeweiligen Waffensysteme", verrät Köhler. Für manche Waffensysteme entwickeln die Techniker sogar die passenden Geräusche, um die Täuschung perfekt zu machen.
Neue Tradition
Nach Auflösung der DDR haben die Storkower Experten das Chamäleon als ihr Wappentier ausgesucht. Damit wollten sie sich von ihrer Vergangenheit lossagen und eine neue militärische Tradition einschlagen.
Die NVA nutzte die Attrappen in erster Linie, um den Feind mit taktischen Manövern auszutricksen. "Es ging um den heimlichen Austausch echter Waffen durch Dummies," erklärt Hauptmann Harald Kaiser, der einst bei der NVA arbeitete. "Deshalb haben wir rund 200 Panzertürme mit beheizten Kanonen, mit Winkelspiegeln und Tarnnetzen gebaut. Darüber hinaus haben wir ungefähr 150 Nachbauten von gepanzerten Fahrzeugen und zwölf Raketenwerferbatterien geliefert", sagt Kaiser. "Zwei Scud-Raketenwerfer waren damals geplant, aber wir haben nur noch einen fertig stellen können. Die Auflösung der NVA kam uns zuvor."
Der Kommandeur Steffen Köhler erläutert, dass die Modelle aus Storkow heute vorwiegend für Übungen der Luftwaffen gebraucht würden. Manchmal kämen auch Aufklärungseinheiten nach Storkow, "wenn sie neue Tarnfarben testen wollen".
Neue Herausforderungen
Seit dem Ende des Kalten Krieges gehören auch ständig einsatzbereite Armeen der Vergangenheit an. Also musste sich die Storkower Einheit neu erfinden. Die sogenannte asymmetrische Kriegsführung der Bundeswehr, zum Beispiel in Afghanistan, hat der Einheit "Tarnen und Täuschen" neue Aufgaben beschert.
"Heute müssen wir die Soldaten auf die große Anzahl verschiedener Munitionen und Sprengkörper vorbereiten", sagt Steffen Köhler. Immer öfter baue die Storkower Einheit Modelle von Minen, Streubomben und raketengetriebenen Granaten, wie sie die Aufständischen in Afghanistan benutzen. "Diese Modelle sollen die Soldaten für die verschiedenen Arten von Sprengsätzen sensibilisieren. Wir wollen aber auch dabei helfen, die Minensuchgeräte zu optimieren", sagt er.
Köhler erinnert sich an eine Übung, bei der eine Mannschaft mit einem Modell-Marder fahren wollte. Die Soldaten hielten ihn für echt. "Wenn unsere neuen Sprengsatz-Attrappen genauso gut funktionieren und helfen, die Leben unserer Soldaten zu retten, dann haben wir unseren Auftrag erfüllt", sagt Köhler.
Autor: Uwe Heßler
Adaption: Gesche Brock