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Tanger: Armut trotz Expansion

Stefanie Claudia Müller z.Zt. Tanger, Marokko
30. März 2021

In der marokkanischen Stadt Tanger laufen die Geschäfte gut - allerdings nicht für die einfachen Menschen. Ihnen fehlt der Geldstrom durch Touristen. Vom wachsenden Warenhandel profitieren sie nicht.

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Marokko Seehafen Tanger-Med
Bild: Chen Binjie/Xinhua/picture alliance

Anass Bouzid träumt schon lange davon, nach Deutschland zu gehen: "Nach Frankfurt, wo Verwandte von mir leben". Er hat eine rudimentäre Elektriker-Ausbildung, findet aber keine feste Anstellung in Marokko. Selbst nicht in Tanger, wo er wohnt und alle Zeichen auf Expansion stehen. Weil er nichts zu tun hat, leiht sich der 25jährige manchmal ein Taxi von einem Freund, ein 35 Jahre alter Mercedes ohne Sicherheitsgurte. Damit fährt er vor allem Touristen durch die Gegend.

So kosmopolitisch und wirtschaftlich vibrierend Tanger auch ist, hangeln sich viele Menschen wie Bouzid mehr schlecht als recht durchs Leben, träumen von Wohlstand und Bildung. Die Pandemie hat die Sehnsüchte der Jugend noch verstärkt. Das Land hat sich aus Angst abgeriegelt. Dadurch kamen kaum noch Touristen und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Marokkos wird 2020 nach Berechnungen von Standard & Poor‘s um 5,5 Prozent einknicken. Die staatlichen Schulden dagegen werden auf fast 66 Prozent des BIPs steigen.

In Tanger ist davon auf den ersten Blick nichts zu spüren. In der Medina werden die Wege neu gepflastert und öffentliche Plätze werden renoviert. In der Marina glänzt der frische Asphalt, es gibt moderne Cafés und Eigentumswohnungen finanziert von reichen Arabern. Die Armut aber bleibt, auch wenn sie in Tanger wenig sichtbar ist.

Eingang der Altstadt (Medina) von Tanger. Hier wird viel neu gemacht und renoviert
Eingang der Altstadt (Medina) von Tanger. Hier wird viel neu gemacht und renoviertBild: Stefanie Claudia Müller/DW

Logistik läuft trotz Pandemie gut

Das eigentliche Juwel der Region liegt 40 km entfernt in Alcazarseguir. Hier erstreckt sich der Hafen von Tanger Med über mehr als zehn Kilometer an der Küste entlang, dahinter grüne Hügel und Windräder. "Kein anderes Land im Maghreb setzt so auf erneuerbare Energien, das wissen wir in Deutschland zu schätzen", sagt der Geschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Marokko, Andreas Wenzel.

Sobald die Pandemie-Restriktionen weltweit gelockert würden, rechnet Standard & Poor's deswegen damit, dass die ausländischen Direktinvestitionen in dem Land wieder anziehen werden. Von solchen Investitionen kommt bei Menschen wie Bouzid aber kaum etwas an.

Blick auf den Hafen von Tanger
Blick auf den Hafen von TangerBild: Stefanie Claudia Müller/DW

"Marokko versucht, seine Einnahmequellen zu diversifizieren und auch seine politischen Abhängigkeiten", sagt Gonzalo Escribano, politischer Analyst vom Real Instituto Elcano in Madrid. Die EU sei immer noch der mit Abstand wichtigste Handelspartner und Absatzmarkt, aber aus Brüssel würden eben auch Forderungen nach mehr Demokratie kommen.  Mit Deutschland gibt es gerade diplomatischen Ärger, weil das Königreich Kritik am Status der besetzen Westsahara schlecht vertragen kann. Die Meinungsfreiheit hört da auf, wo die eigene Regierung oder gar der Monarch Mohammed VI kritisiert werden. Heimische Pressevertreter landen wegen eines falschen Tweets im Gefängnis und einige ausländische Journalisten dürfen derzeit nur mit Genehmigung des marrokanischen Aussenministeriums recherchieren. "Es ist aber eines der stabilsten Länder in Afrika und verfügt über eine ideale Infrastruktur", erklärt Menzel das zunehmende wirtschaftliche Engagement der Deutschen vor Ort.

Vom Brexit erhoffe sich Marokko Vorteile, weil nun direkt mit Grossbritannien verhandeln werden könne und Marokko über die Freihandelszone steuerlich günstige Konditionen anbieten könne, so Escribano. Inzwischen hat Marokko auch diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen und hofft dadurch ebenfalls auf Wirtschaftsimpulse.

Marokko ist wichtiger Investitionsstandort in Afrika

Der grüne Norden des Landes ist ein klarer Gewinner der Pandemie. Allein das Cargo-Volumen in Tanger Med wuchs im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2019 um 23 Prozent auf 81 Millionen Tonnen. Jetzt wurde auch der Vertrieb von therapeutischem Cannabis zugelassen, was den hier ansässigen weltweit wichtigen Marihuana-Produzenten weiter Auftrieb geben wird.

Und nicht nur Waren aus aller Welt werden inzwischen in Tanger in Hochgeschwindigkeit umgeschlagen. Ein Hochgeschwindkeits-Zug verbindet die Hafenstadt mit dem mondänen Finanzzentrum Casablanca. Tanger will Luxus- und Geschäftstouristen anziehen sowie Kreuzfahrtschiffe. Die Häfen sind schon jetzt die modernsten des Landes, die Steuerbedingungen ähneln denen von Gibraltar.

Am Fährhafen von Tanger ist alles neu, aber es steht auch alles still wegen der Corona-Pandemie
Am Fährhafen von Tanger ist alles neu, aber es steht auch alles still wegen der Corona-PandemieBild: Stefanie Claudia Müller/DW

Deutsche Firmen, die früher in Tanger vor allem in die Textilproduktion investierten, bauen nun Logistik, Technologie und Dienstleistungen im Land aus. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank lagen die deutschen Direktinvestitionen in Marokko 2018 bei 1,2 Milliarden Euro. "Ein Wachstum von 600 Prozent in acht Jahren. Marokko ist mittlerweile für uns nach Südafrika der zweitwichtigste Investitionsstandort auf dem Kontinent", sagt Wenzel. Aber viel wichtiger sind wirtschaftlich neben den US-Amerikanern, die gerade die Westsahara als marokkanisch anerkannt haben, die Spanier und Franzosen, Chinesen, Japaner und Araber.

Der fehlende Tourismus trifft viele einfache Marokkaner

Dennoch: Der Durchschnitts-Einwohner von Tanger lebt von der Medina, dem Wochenmarkt und wie Bouzid vom Tourismus. Seit einem Jahr ist es jedoch ruhig. In dem ehemaligen Spionen- und Künstler Hotel Minzah sitzen nur ganz wenige auf der Terrasse. An den Stränden von Tanger servieren die meisten Restaurants kein Essen. "Es lohnt sich nicht, die Küche zu öffnen. Es fehlen die Kunden", erzählen sie.

Unter anderem vom Dalia Strand in der Nähe von Tanger Med starten Migranten ihre gefährliche Reise nach Europa
Unter anderem vom Dalia Strand in der Nähe von Tanger Med starten Migranten ihre gefährliche Reise nach EuropaBild: Stefanie Claudia Müller/DW

Es gibt seit einem Jahr keinen Fährverkehr. So kommen auch weniger Auslandsmarokkaner in ihre Heimat und auch das Geld, das sie in normalen Zeiten ins Land bringen. Die Aussichtslosigkeit der aktuellen Situation treibt noch mehr Marokkaner als sonst nach Europa. Die illegalen Boote nach Europa fahren auch von Dalia los, einem paradiesischen Strand in der Nähe von Tanger Med.

Der bekannte marokkanische politische Kommentator Jamal Amiar kennt Europa, er hat in den USA unterrichtet und studiert. Seine Perspektive und Sicht auf Marokko ist ganz anders als die von Bouzid. Aber so kosmopolitisch sein Tanger auch ist, die Stadt zeigt auf sehr konzentrierte und anschauliche Weise das eigentliche Problem von Marokko: "Hier gibt es keinen Hunger", sagt Bouzid. Die Gehälter seien sehr niedrig, aber die Lebenskosten auch. "Es gibt jedoch enorme Einkommensunterschiede und es fehlt eine berufliche Fachausbildung. Und je weiter weg von der Stadt jemand wohnt, desto weniger Arbeit gibt es", so Bouzid. 

Jamal Amiar | Journalist aus Marokko
Jamal AmiarBild: Privat

Mehr Armut durch Corona

Zwischen neuesten Fabrikanlagen in der Nähe von Tanger Med und Autocity grasen Kühe, Schafe und Ziegen wild auf nicht eingezäunten Feldern. Ein sehr treffendes Bild, wie die Welten hier auseinanderdriften. Trotz aller High-Tech-Investitionen arbeiten immer noch 40 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft. Je weiter südlich im Land jemand wohnt, desto trostloser werden die Aussichten.

Die Pandemie hat die Armut verschärft. Es stauen sich dort Auswanderwilligen aus Mali, Senegal und Mauretanien. "Marokko hat Angst, dass ihm ein ähnliches Schicksal blüht wie der Türkei", sagt Amiar. Er hat viel über Auswanderung und marokkanische Identität geschrieben: "Das Fernsehen und auch die Touristen lassen die Marokkaner von einem besseren Leben träumen und das hat auch mit Freiheit zu tun". 

Eine Millionen Landsleute leben bereits in Spanien, da will Bouzid aber nicht hin: "Ich werde meinen Lebenslauf aktualisieren und irgendwie versuchen, einen Job in Deutschland zu bekommen", sagt er und klopft auf das Dach seines geliehenen Mercedes: "Wer so gute Autos baut, der kann mir was beibringen," lacht er.