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PolitikTürkei

Türkei: Viel Kritik für Erdogans "Jahr der Familie"

Burak Ünveren | Pelin Ünker
30. Januar 2025

Seit Jahren fordert Präsident Erdogan, dass jede Frau in der Türkei "mindestens drei Kinder" zur Welt bringen sollte. Auch deshalb hat das Land 2025 zum "Jahr der Familie" ausgerufen. Frauenrechtlerinnen üben Kritik.

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Eine Demonstration gegen geschlechtsspezifische Gewalt in Istanbul
Eine Demonstration gegen Frauenmorde und häusliche Gewalt in IstanbulBild: YASIN AKGUL/AFP/Getty Images

Die Erdogan-Regierung feiert das Jahr 2025 als das sogenannte "Jahr der Familie". Die Beförderung eines konservativen Familienbildes ist ein weiterer Versuch von Erdogans AKP ganz nach Tradition der Partei, die türkische Gesellschaft nach eigenem Weltbild zu gestalten.

In seiner über 23-jährigen Herrschaft ließ Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mehrfach verlauten, was er darunter versteht. 2008 sagte er allen türkischen Frauen: "Bringt mindestens drei Kinder auf die Welt", was schon damals große Kritik auslöste. Damit solle die sinkende Geburtenrate und die damit einhergehende zunehmende Überalterung der Bevölkerung bekämpft werden, hieß es. 2012 erklärte Erdogan: "Wir möchten eine religiöse Jugend erziehen" und bekräftigte dies in den vergangenen Jahren mehrfach.

Nun sollen mit der Ankündigung des "Jahrs der Familie" traditionell-islamische Werte in der Familienpolitik hervorgehoben und die Institution Familie insgesamt gestärkt werden. Erdogan warnte vor einer "kulturellen Erosion" und kritisierte dabei auch das Familienbild in vielen in der Türkei populären Medien. Erdogan sprach in seiner Rede bei der Präsentation der Kampagne von einer "Politik der Geschlechtslosigkeit", mit der "die Familie angegriffen" werde.

Das neue Logo zum "Jahr der Familie", entworfen vom türkischen Familienministerium. Zu sehen ist die ideale Familie nach Vorstellungen der AKP: Mutter, Vater und drei Kinder
Das neue Logo zum "Jahr der Familie", entworfen vom türkischen Familienministerium, zeigt die ideale Familie nach Vorstellungen der AKP: Mutter, Vater und drei KinderBild: Ministerium für Familie und Soziales

"Probleme werden unter den Teppich gekehrt"

Wenig überraschend kam die Kampagne bei Frauenrechtsaktivistinnen nicht gut an. Sie werfen der Regierung vor, in der Familienpolitik eine Art "kulturelle Hegemonie" zu schaffen und die türkische Gesellschaft nach eigenem Weltbild standardisieren zu wollen.

Kurz vor dem Jahreswechsel unterschrieb Präsident Erdogan ein Dekret zum "Status der Familie" - womit der Grundstein der neuen Kampagne gelegt wurde. Damit solle das Familiengesetz des islamistischen Rechtssystems Scharia zum Einsatz kommen, kritisiert die Frauenrechtlerin und Anwältin Selin Nakipoglu.

Ihr zufolge würden so alte Rollenbilder und geschlechtsbedingte Ungleichheiten zementiert "und die Gewalt der Männer gegenüber den Frauen und Kindern unter den Teppich gekehrt". Weiter kritisiert Nakipoglu: "Das sogenannte Jahr der Familie wird nur dazu beitragen, die untergeordnete Rolle der Frau in der Gesellschaft zu konsolidieren. Diese Politik wird die Ausbeutung bezahlt und unbezahlt arbeitender Frauen erhöhen." 

Verschärft werde das Problem dadurch, dass die Türkei in einer schweren Wirtschaftskrise stecke: "Wir leben momentan in der Türkei in einer beispiellosen Armut. Die Regierung braucht Themen, die die Bürger von den eigentlichen Problemen ablenken und gleichzeitig die Gesellschaft zusammenhalten. Dabei sollte eigentlich das einzige Thema die schwere Armut sein, für die die Regierung selbst verantwortlich ist."

Femizide in der Türkei: Proteste nehmen zu

Keine Politik für die Frauen der Türkei

Die Untergrabung der Frauenrechte ist seit Jahren ein großes Thema in der Türkei. Besonders frappierend ist die anhaltend hohe Zahl an Femiziden im Land. Laut der türkischen Frauenrechts-Plattform "Wir werden Femizide stoppen" wurden im Jahr 2024 ingesamt 394 Frauen ermordet sowie 259 verdächtige Todesfälle von Frauen registriert. 2023 waren es 315 Frauenmorde und 248 verdächtige Todesfälle.

In vielen Fällen gehen die mutmaßlichen Täter straflos aus - was regelmäßig Wellen der Empörung in der türkischen Gesellschaft auslöst. Hinzu kommt: Die Türkei trat 2021 aus der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt aus.

Es sind diese Rahmenbedingungen, die Canan Güllü, die Präsidentin der Föderation der Türkischen Frauenvereine, besonders kritisch auf die neueste Kampagne der Regierung blicken lassen. "2025 hätte nicht zum Jahr der Familie, sondern zum Jahr der Verhinderung von Femiziden erklärt werden müssen. Nur eine solche Entscheidung hätte das Vertrauen der Frauen wecken können", so Güllü.

Die Regierung mache jedoch keine Politik für die Frauen. "Vor allem möchten Frauen ihr Grundrecht auf Leben geschützt wissen. In einem Land, in dem so viele Frauen ermordet werden, müsste die oberste Priorität der Schutz dieses Rechtes sein. Es ist ein großer Fehler, die Frauen darauf zu reduzieren, dass man sie zum Gebären ermutigt", so Güllü.

Sie fordert konkrete Schritte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und ergänzt: "Wir schlagen bereits Lösungen vor, aber keiner hört uns zu. Ein System, das nicht in der Lage ist, die Frauen zu schützen, kann keinesfalls die Familien stärken."

Türkei: Protest der Frauen gegen Austritt aus Istanbul-Konvention
Der Austritt aus der Istanbul-Konvention löste in der Türkei große Proteste aus: "Wenn es für uns keine Ruhe gibt, gibt es für euch auch keine Ruhe"Bild: Fatima Çelik/DW

Geburtenrate in der Türkei im Sinkflug - wegen der Regierung?

Außerdem sei die Regierung selbst für die Probleme verantwortlich, die sie angeblich lösen wolle: Die Geburtenrate sinke aufgrund der sich immer weiter verschlechternden wirtschaftlichen Lage und der damit einhergehenden Perspektivlosigkeit vieler Türkinnen und Türken sowie wegen des mangelnden Vertrauens vieler Menschen in die Justiz, meint Güllü.

Die Statistik zeigt tatsächlich, dass die Familienpolitik der Regierung die in sie gesteckten Erwartungen bislang nicht erfüllen konnte. 2013 hatte sie sich zum Ziel gesetzt, die Geburtenrate auf über 2,1 Kinder pro Frau zu bringen. Bis 2023 sank diese aber auf das Niveau von rund 1,5 Kindern pro Frau.

Dem Demografen Ismet Koc von der Hacettepe-Universität in Ankara zufolge hat die Regierung in der Vergangenheit falsche Weichenstellungen gesetzt: "Die Maßnahmen für finanzielle Anreize, Kinderbetreuungsangebote und das Recht der Frauen auf Teilzeitarbeit sind mangelhaft geblieben. Diese Dinge sind verantwortlich für die sinkende Geburtenrate", so Koc.

Die Regierung will nun gegensteuern. Anfang 2025 wurden neue Anreize angekündigt: unverzinste Kredite in Höhe von 4000 Euro für heiratswillige Paare sowie Bargeldhilfen für Mütter bei der ersten Geburt. Hinzu kommen Pläne zum Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten und eine Erhöhung des Kindergeldes für Kinder, die seit dem 1.1.2025 geboren wurden.

"Diese Ideen scheinen auf den ersten Blick besser zu sein als die bisherige Politik. Wie das alles aber umgesetzt werden soll, ist bislang noch nicht klar formuliert worden", sagt Koc und ergänzt: "Mit einer solchen Politik, die rein auf finanziellen Anreizen basiert, lassen sich allenfalls vorübergehende Erfolge erzielen." Ein möglicher Anstieg der Geburtenrate werde aber nicht von Dauer sein, prognostiziert der Demograph. 

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.