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BildungSyrien

Syrien im Umbruch: Bildung zwischen Ideologie und Neubeginn

2. Februar 2025

Änderungen an Syriens Lehrplänen schüren Ängste vor einer Islamisierung durch die Übergangsregierung. Das Bildungssystem steht vor enormen Problemen: Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, viele Gebäude sind zerstört.

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Unterricht in einer Grundschule in Damaskus, Dezember 2024: viele der Kinder tragen eine blaue Uniform, einige heben die Hand im Unterricht
Auch in Damaskus ist das das Bildungssystem vom Krieg gezeichnetBild: Chris McGrath/Getty Images

Es war eine bildungspolitische Revolution: Als vergangene Woche über dreieinhalb Millionen syrische Schüler ihre ersten Prüfungen seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Baschar al-Assad ablegten, mussten sie keine Fragen mehr zum Thema "Syrischer Nationalismus" beantworten. Der Übergangsbildungsminister Nazir al-Qadri ließ das Prüfungsthema kurzfristig streichen, da es in der Vergangenheit vor allem der Glorifizierung Assads und seines Regimes gedient hatte.

"Für meinen älteren Sohn war das eine gute Nachricht", erklärte Anas Joudeh, Gründer der zivilgesellschaftlichen Initiative Nation Building Movement in Damaskus, im DW-Interview. "Dennoch haben bei uns die Alarmglocken geschrillt. Jetzt bleibt abzuwarten, was im nächsten Semester stattdessen unterrichtet wird." 

Als Vater eines Sohnes in der siebten und einer Tochter in der zweiten Klasse befürchtet Joudeh, dass die nach Assads Sturz regierende islamistische Gruppe Hajat Tahrir al-Sham (HTS) den Lehrplan in ihrem Sinne verändern könnte - ähnlich wie zuvor Assad den Lehrplan nach seiner Ideologie gestaltet hatte. "Das ist ein Problem. Eigentlich ist es sogar eine Katastrophe."

Islamistische Tendenzen?

Das Prüfungsfach "Syrischer Nationalismus" wurde im Zuge einer Reihe von Änderungen gestrichen, die das Bildungsministerium im Januar auf seiner offiziellen Facebook-Seite bekanntgegeben hatte. Unter anderem wurde die Formulierung "Verteidigung der Nation" durch "Verteidigung Allahs" ersetzt, und die "Verdammten und Irrenden" wurden durch "Juden und Christen" ersetzt. Außerdem beschreibt der Begriff "Märtyrer" nun nicht mehr eine Person, die für ihr Vaterland stirbt, sondern jemanden, der "für Gott" sein Leben gibt.

Al-Qadri, der zuvor fünf Jahre lang für das Bildungsministerium in der von der HTS kontrollierten Provinz Idlib tätig war, spielte die Änderungen inzwischen herunter. Er erklärte, seine Anweisungen hätten sich lediglich auf die Entfernung von Inhalten bezogen, die das Assad-Regime glorifizierten, sowie auf die Einführung der syrischen Revolutionsflagge in allen Schulbüchern.

Zudem seien "Ungenauigkeiten" im Lehrplan für den Islamunterricht korrigiert worden. Fachgremien würden die Änderungen überprüfen, ein Termin dafür stehe jedoch noch nicht fest. Die Neuerungen sollen jedoch rechtzeitig zum Beginn des kommenden Schuljahres im September umgesetzt werden.

Unterichtsszene aus einer Schule in einem Flüchtlingscamp nahe Damaskus (Archiv: 2018)
Unterricht in Zeiten des Krieges: Viele Syrer hatten entweder keinen oder nur rudimentären Zugang zu Bildung in Camp-SchulenBild: Olga Balashova/TASS/dpa/picture-alliance

Inklusiver Dialog gefordert

Anas Joudeh bleibt skeptisch. Er befürchtet, dass die plötzlichen Änderungen ein Hinweis darauf sein könnten, dass die Übergangsregierung der HTS ihr Versprechen, eine nationale Dialogkonferenz abzuhalten, nicht einlösen wird. Diese Konferenz sollte ursprünglich die multireligiöse und multiethnische Gesellschaft Syriens widerspiegeln. Joudeh sorgt sich jedoch, dass die Übergangsregierung stattdessen versuchen könnte, ihre eigene Ideologie im Lehrplan zu verankern.

Auch zahlreiche Lehrer protestierten Anfang Januar vor dem Bildungsministerium in Damaskus. Sie kritisierten insbesondere, dass die Entscheidung zur Lehrplanänderung ohne jegliche Einbindung von Lehrern oder der Zivilgesellschaft getroffen wurde. Zudem stellten sie das Recht der Übergangsregierung infrage, derartige Änderungen vorzunehmen.

Gefangene des Assad-Regimes wieder mit Familien vereint

Die HTS-Miliz wird aufgrund ihrer Verbindungen zum sogenannten "Islamischen Staat" (IS) und zu Al-Kaida weiterhin von den USA und den Vereinten Nationen als ausländische Terrororganisation eingestuft. Eigentlich sollte sie lediglich als Übergangsregierung dienen. Doch bisher ist unklar, wann sie die Macht an eine gewählte Regierung übergeben wird.

HTS-Chef Ahmed al-Scharaa hatte zunächst erklärt, die von ihm geleitete provisorischer Regierung werde nur bis März 2025 im Amt bleiben. Später erklärte er, dass die HTS das Land bis zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung in zwei bis drei Jahren regieren werde - möglicherweise sogar bis zu den darauffolgenden Wahlen.

"Die syrischen Führungspersönlichkeiten sollten zivilgesellschaftliche Organisationen und die Bevölkerung in die Gestaltung und den Aufbau des neuen Syriens einbeziehen und dabei deren Erfahrungen und Perspektiven berücksichtigen", sagte Alice Gower von der Londoner Beratungsfirma Azure Strategy im Gespräch mit der DW. "Insbesondere das Bildungssystem ist ein entscheidender Faktor für die Schaffung von Einheit und nationaler Identität."

Blick auf zerstörte Gebäude im palästinensisch dominierten Viertel Jarmuk in Damaskus, Dezember 2024
Neben anderen Gebäuden sind auch viele Schulen in Syrien zerstört.Bild: Fadel Itani/NurPhoto/IMAGO

Millionen Kinder ohne formelle Schulbildung

Allerdings ist der Lehrplan nicht die einzige Sorge syrischer Eltern, denn 14 Jahre Krieg haben das Bildungssystem in Syrien auf vielen Ebenen schwer beschädigt.

So war das Land während des Krieges in verschiedene Machtblöcke zerfallen. Der Nordwesten wurde von der Gruppe HTS regiert, während der Nordosten bis heute von den Kurden regiert wird, die dort eine halbautonome Region errichtet haben. 

Während der letzten Kriegsjahre kontrollierte die Regierung in Damaskus nur etwa zwei Drittel des Landes. Für die Kinder bedeutete dies, dass sie in völlig unterschiedlichen Bildungssystemen unterrichtet wurden - sofern sie überhaupt zur Schule gingen.

In den von der Regierung kontrollierten Gebieten blieben Schulen und Universitäten auch während des Krieges geöffnet. In anderen Regionen hatten jedoch Millionen Kinder keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Stattdessen nahmen sie an informellen Bildungsangeboten teil, etwa in Gemeindezentren, an ihren Arbeitsplätzen zur Unterstützung ihrer Familien oder über Online-Plattformen.

"Rund 2,5 Millionen Kinder konnten aufgrund des Krieges nicht zur Schule gehen", sagte James Elder, Sprecher des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF), der DW. Bei einer weiteren Million drohe der vorzeitige Schulabbruch.

Auch der desolate Zustand der Bildungsinfrastruktur zählt zu den gravierenden Folgen des Krieges. "Jede dritte syrische Schule ist entweder zerstört oder wird als Unterkunft für vertriebene Familien genutzt", sagte James Elder von UNICEF. Nun seien zwei Dinge entscheidend: "Zum einen muss ein integrativer Lehrplan entwickelt werden, der die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt des Landes widerspiegelt. Zum anderen sind Investitionen notwendig, um die bestehenden Bildungssysteme zu stärken und sicherzustellen, dass jedes syrische Kind Zugang zu kontinuierlicher Bildung erhält."

Denn je länger ein Kind nicht zur Schule geht, desto größer ist das Risiko, dass es Opfer von Kinderarbeit, Kinderheirat, Menschenhandel oder Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen wird. Darüber hinaus betont Anas Joudeh von der Initiative Nation Building Movement, wie wichtig es ist, Lehrer auf den Übergangsprozess und die politische Zukunft des Landes vorzubereiten.

"Das trägt auch zum nationalen Versöhnungsprozess bei", so Joudeh. Letztlich führe kein Weg daran vorbei, über die Werte und Symbole der Nation zu diskutieren. In diesem Zusammenhang seien die Lehrpläne "das dringendste Problem".

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.