Synästhesie - wenn Sinne sich verbinden
Manche Menschen sehen jede Zahl in unterschiedlichen Farben, sehen Farben zu Tönen, fühlen Lieder, riechen Bilder. Diese natürliche Verbindung von verschiedenen Sinneseindrücken nennt man Synästhesie.
Wenn Töne zu Farben werden
Die Musikerin Kaitlyn Hova sieht die Musik, die sie spielt, in Farben. Um der Welt zu zeigen, was sie sieht, hat sie eine leuchtende Geige gebaut. Bei Menschen mit dieser Wahrnehmung verbinden sich im Kopf verschiedene Sinneseindrücke. Dies nennt man Synästhesie.
Einer aus 25
Vier Prozent der Menschen haben Synästhesie. Das entspricht statistisch einer Person aus 25. Zum Vergleich: Nur etwa ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung sind rothaarig. Wie nehmen Menschen mit Synästhesie die Welt wahr?
Caroline Beier
Caroline Beier ist Ärztin in Hamburg. Ihre Synästhesie half ihr schon in der Grundschule, sich Sachen besser zu merken, denn...
Zahlen im Gemüsestand
...sie sieht Buchstaben und Zahlen in unterschiedlichen Farben und in 3D. Die 8 ist immer gurkengrün, die 3 immer grasgrün, die 4 immer sonnengelb und die 2 stets cremeweiß. Um sich die Quadratzahl von 18 zu merken, stellt sie sich vor, dass zwei dunkelgrüne Gurken in einem hellgrünen Gemüsestand mit gelb-weiß gestreifter Markise liegen.
Alexandra Kirschner
Nicht nur Buchstaben, auch Töne können mit Farben verbunden werden. Das hilft Alexandra Kirschner in ihrem Beruf als Stimmbildnerin eines Knabenchores bei Stuttgart.
Wenn Töne aus der Reihe tanzen
Sie hört unterschiedliche Stimmen in unterschiedlichen Farben. Hohe Stimmen sind oft gelb gefärbt. Tiefere Stimmen sind eher dunkelblau. Wenn jemand eine Tonleiter singt, sieht Kirschner die Töne als Kreise vor sich im Raum. Hört sie in der Tonleiter einen falschen Ton, sieht sie diesen auch. Der Kreis wird grau und unscharf und tanzt aus der Reihe.
Farbiger Tastsinn
Wenn man eine Form der Synästhesie hat, ist die Wahrscheinlichkeit höher, auch weitere Verbindungen von Sinneseindrücken wahrzunehmen. Nicht nur Klänge lösen bei Alexandra Kirschner Farben aus, auch Berührungen. Kneift sie sich kurz in den Arm, erscheint in ihrem Kopf eine rosa-hellblaue Ellipse wie von einem Bleistift gezeichnet.
Rosa schmeckt nach Erdbeereis
Andersherum können Farben auch Geschmäcker auslösen. Wenn Alexandra Kirschner einen rosafarbenen Wollpulli sieht, hat sie den Geschmack von Erdbeereis im Mund.
Auch umgekehrt - Farben werden zu Tönen
Und es geht nicht nur in eine Richtung, dass Menschen Musik in Farben sehen. Die Musikerin Katja Krüger hört automatisch bestimmte Töne, wenn sie bestimmte Farben sieht. Die Verbindungen entstanden wie bei fast allen Synästhetikern schon als Kind – bevor sie überhaupt ein Musikinstrument spielte.
Ein roter Oboenton
Sieht sie etwa einen roten Luftballon vor sich, hört Katja Krüger den Ton "a" von einer Oboe gespielt.
Nofretete gehört
Einmal hat sie sogar ein Foto der Nofretete-Statue in Tönen aufgeschrieben. Wenn sie sich die Farben des Kopfes der Nofretete von unten nach oben anschaut, kann sie die in Noten übersetzen. Daraus hat sie ein ganzes Musikstück geschrieben.
Martin Schmiederer
Manche Menschen, wie Martin Schmiederer, haben wirklich viele Synästhesieformen auf einmal. Da kann manchmal ganz schön etwas los sein. Der Wissenschaftler und Philosoph kann sich durch seine Farb- und Klangcodes etwa Textstellen gut merken. Eine Reizüberflutung erlebt er trotz seiner 21 Synästhesieformen selten. Er kann sich auf mehrere Wahrnehmungen konzentrieren, kann sie aber auch ausblenden.
Geschmack wie beim Zahnarzt
Für ihn sind verschiedene Wahrnehmungen wie Monitore übereinander gelegt . Die Farben sieht er an unterschiedlichen Stellen im Raum. Beim kleinen "k" kann er folgendes wahrnehmen: Den Buchstaben sieht er links oben in 3D im Raum in schwarzgrün. Wenn er das "k" liest, hat er einen Geschmack wie beim Zahnarzt im Mund. Spricht er den Laut "k", erzeugt der Ton eine Farbe, die rechts unten erscheint.
So viel auf einmal?
Synästhesie ist keine Krankheit, sondern einfach eine andere Art, Dinge wahrzunehmen. Die meisten empfinden ihre zusätzlichen Sinneseindrücke als angenehm, können sie aber auch in den Hintergrund schieben. Alexandra Kirschner und Martin Schmiederer erzählen aber zum Beispiel beide, dass sie keine kratzigen Wollpullover anziehen mögen, weil dieses Gefühl eine unangenehme Farbe hervorruft.
Keine Einbildung
Synästhesie ist keine Einbildung. Ein funktionales MRT zeigt, dass Hirnareale für unterschiedliche Sinne aktiv sind. Es gibt auch genetische Zusammenhänge. Menschen mit Synästhesie haben oft Familienmitglieder mit Synästhesie. Viele Menschen wissen nicht, dass sie Synästhetiker sind, weil die Eindrücke für sie völlig normal sind. Synästhesie ist bei Frauen und Männern gleich häufig.
Ganz spontan, aber immer wieder da
Es gibt über 80 dokumentierte Formen von Synästhesie. Alle haben gemeinsam, dass sie spontan auftreten, ohne bewusste Vorstellung. Ein bestimmter Eindruck ist immer mit dem selben anderen Eindruck verbunden und kehrt immer wieder. Berühmte Menschen mit Synästhesie sind etwa Pop-Musiker Lady Gaga (Foto) und Pharell Williams sowie Künstler Wassily Kandinsky oder Philosoph Ludwig Wittgenstein.