Chinesen Taiwan
9. Juli 2012Wenn die Sonne untergeht, füllt die Cafeteria sich mit Studenten. Manche bereiten sich noch auf die letzten Prüfungen des Semesters vor. Stapelweise liegen Lehrbücher vor ihnen auf den Tischen. Die anderen haben es überstanden. Sie plaudern über ihre Pläne für die Ferien. Einige werden bald ganz Abschied nehmen müssen vom Campus dieser privaten Universität in der Nähe von Taipeh.
So wie zwei Studentinnen Anfang 20. Sie fallen zwischen ihren Kommilitonen nicht weiter auf. Und doch sind sie etwas besonderes: Sie kommen aus der Volksrepublik China. Sie nennen sich Huang und Liu. Ihre richtigen Namen wollen sie lieber nicht preisgeben. Man hatte sie davor gewarnt, in Taiwan mit den Medien zu sprechen. Huang und Liu haben gerade ein Austauschsemester an dieser Uni verbracht.
Wo das Leben anders abläuft
Sie war sofort interessiert, als sie von der Möglichkeit hörte, einen Teil ihres Studiums in Taiwan zu absolvieren, sagt Studentin Liu aus Suzhou: “Ich wollte unbedingt einige Zeit an einem Ort verbringen, wo das Leben anders abläuft. Da war Taiwan eine gute Wahl.”
In vier Tagen steigen Liu und Huang ins Flugzeug und werden Taiwan wieder verlassen. Vielleicht für immer, denn Bürger der Volksrepublik können nicht beliebig nach Taiwan reisen, hier studieren oder arbeiten. Auf beiden Seiten gibt es viele Hürden und Einschränkungen. Studentin Liu hat den Sprung geschafft. Sie konnte am eigenen Leib erfahren, wie das Leben in Taiwan sich von dem in China unterscheidet: “Von außen betrachtet sieht vieles sehr ähnlich aus. Die Kultur, Sprache und Schriftzeichen. Aber was das System angeht oder die Denkweise - da gibt es Unterschiede”, erklärt Liu.
Hoher Lebensstandard
In Taiwan gehe es allgemein entspannter zu als in der Volksrepublik, findet ihre Kommilitonin Huang, die aus Zentralchina stammt. Auch die taiwanischen Studenten ließen es ruhiger angehen und machten einen weniger fleißigen Eindruck auf sie: “Das Leben hier kommt mir langsamer und gemütlicher vor. Dass die Studenten nicht so fleißig sind, meine ich aber nicht unbedingt negativ. Das hat mit der Entwicklung des Lebensstandards zu tun. Diese Gesellschaft hat schon ein hohes Niveau erreicht, das beeinflusst auch die Studenten.”
Die politischen Spannungen zwischen China und Taiwan spielen natürlich immer eine Rolle, aber eher im Hintergrund. Sie hätten sich vorgenommen, in der Diskussion mit Taiwanern keine “roten Linien” zu überschreiten, erzählen die Studentinnen. Oft sei das gar kein Problem gewesen, weil ihr Gegenüber gar kein Interesse hatte, Themen wie Vereinigung oder Unabhängigkeit zu diskutieren. “Viele Studenten in Taiwan machen sich gar nichts aus Politik”, beobachtet Studentin Liu.
Die Tore geöffnet
Schon seit Längerem dürfen chinesische Studenten für einige Monate nach Taiwan kommen. Nach dem Machtwechsel 2008 hat die Kuomintang-Partei die Tore dann weiter geöffnet. Seit vergangenem Jahr können Chinesen sich nun sogar ganz regulär an Taiwans Universitäten einschreiben und Abschlüsse machen. Als Grund für die Öffnung nennt Taiwans Regierung: Junge Leute von beiden Seiten sollten sich besser kennen lernen und Vorurteile überwinden.
Viele Taiwaner aber sind skeptisch. Die einen kritisieren, Taiwans Hochschulen – von denen es eigentlich zu viele gibt und die über jeden Bewerber froh sind – würden sich von den Studiengebühren der Chinesen abhängig machen. Die anderen fürchten, chinesische Studenten könnten Taiwandern Arbeitsplätze wegnehmen. Und wieder andere sorgen sich, die Vereinigung beider Seiten würde so indirekt vorangetrieben.
Ansturm bleibt aus
Um die Kritik zu entkräften, hat Taiwans Regierung eine Menge Hürden aufgebau und die Zahl der Chinesen, die sich regulär einschreiben dürfen, auf 2000 beschränkt. Doch so groß wie erwartet ist der Ansturm gar nicht ausgefallen.Nicht mal die Hälfte der 2000 Plätze sind im ersten Jahr vergeben worden. Das liege an den Beschränkungen, sagt Taiwans Präsident Ma Ying-Jeou. Er hat bereits angekündigt, die Regeln zu lockern. Das dürfte in Taiwan noch für einigen Streit sorgen - den die Austausch-Studenten dann direkt vor Ort mitverfolgen können. Auch Studentin Liu ist aufgefallen: In Taiwans Medien wird kontroverser diskutiert als daheim. “Taiwan ist ein Mehrparteien-System, hier werden immer auch abweichende Stimmen laut. Die gibt es auf dem Festland zwar auch, aber dort ist in den Medien die offizielle Stimme viel lauter.”
Studentin Liu sagt, sie verstehe jetzt die Sichtweise der Taiwaner besser: “ In Taiwan geht es zwar chaotischer zu, aber dafür darf man Widerspruch äußern. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Die Taiwaner sind stolz darauf, dass in ihrer Gesellschaft die Toleranz so eine wichtige Rolle spielt.”
Auch ihre Kommilitonin Huang konnte erst in Taiwan ein Facebook-Konto eröffnen. Das wird sie nun wohl wieder aufgeben müssen, weil die Seite in China zensiert wird. Trotzdem findet sie: Einige übertreiben es mit dem Stolz. “Manche Taiwaner reden extra immer über Freiheit, Freiheit, Freiheit, um mich mit dem Thema aufzuziehen. Die tun so, als sei Taiwan das Paradies auf Erden. Da weiß ich auch nicht, was ich sagen soll.”
Eine freundliche Gesellschaft
In den Seminaren sind die Studentinnen auch in Kontakt mit Themen gekommen, die in China tabu sind. Ein Professor erzählt, er habe im Unterricht etwa Chinas Einparteiensystem und die Tradition autoritärer Herrschaft angesprochen. Die Studentinnen aus China hätten sich engagiert an der Diskussion beteiligt. Noch prägender war vielleicht aber die Erfahrung, dass es in Taiwans Gesellschaft oft ziviler und freundlicher zugeht als in der Volksrepublik.
“Nur ein kleines Beispiel: Ich habe mal im Supermarkt eine Packung Eier auf den Boden geworfen”, erinnert sich Studentin Huang. “Das war mir extrem peinlich. Aber eine andere Kundin hat sich sofort angeboten, mir zu helfen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind hier stärker, man legt mehr Wert auf die Gefühle des Gegenübers.”
Solche Eindrücke sind es wohl, auf die Taiwans Regierung hofft, wenn sie mehr und mehr Chinesen ins Land lässt - als Touristen oder als Studenten. Wobei die Studenten einen tieferen Eindruck von Taiwan mit zurück nehmen, meint auch Liu: “Viele Touristen kommen vom Festland nach Taiwan, aber ihre Erfahrung ist begrenzt. Man kennt auch Musik und Fernsehserien aus Taiwan. Aber wir Austausch-Studenten können das Leben hier besser kennen lernen. Das wird sicher einen Wandel bringen. Wie groß der nun ausfallen wird, das lässt sich schwer sagen.”