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Studie: Die Bundesregierung ist besser als ihr Ruf

12. September 2023

Lob für Bundeskanzler Olaf Scholz und seine entschlossen handelnde Koalition: Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung bescheinigt ihnen eine äußerst vielversprechende Zwischenbilanz.

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Drei Männer mit skeptischem Gesichtsausdruck während der Parlamentsdebatte über den Finanzetat des Bundes: Regierungschef Bundeskanzler Olaf Scholz (r.), der nach einem Sportunfall eine Augenklappe trägt, Wirtschaftsminister Robert Habeck (l.) und Finanzminister Christian Lindner (hinter den beiden)
Skeptische Blicke: Bundeskanzler Olaf Scholz (r.). Wirtschaftsminister Robert Habeck (l.) und Finanzminister Christian Lindner (hinten)Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Wie passt das zusammen? Im aktuellen Deutschlandtrend sind nur 19 Prozent der Befragten mit der Bundesregierung aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP) zufrieden, aber in einer jetzt veröffentlichten Studie wird dem seit Dezember 2021 amtierenden Trio insgesamt gute Arbeit bescheinigt.

Auf dem Prüfstand: der Koalitionsvertrag

Dieser auf den ersten Blick eklatant erscheinende Widerspruch lässt sich bei genauerem Hinsehen aber schnell auflösen: Denn die von der privaten Bertelsmann-Stiftung initiierte Untersuchung ist eine wissenschaftlich fundierte Analyse des Koalitionsvertrages und der darin formulierten Wahlversprechen. Ergänzt wurde sie durch eine repräsentative Umfrage.

"Dieses Vorgehen ermöglichte dann den Vergleich zwischen tatsächlichem und wahrgenommenem Erfüllungsstatus der Koalitionsversprechen", heißt es einleitend im Text der Studie. Diese wurde vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach durchgeführt. In persönlichen Umfrage-Interviews waren 1.011 Wahlberechtigte ab 16 Jahren bundesweit befragt worden. Das federführende Duo Robert Vehrkamp (Bertelsmann-Stiftung) und Theres Matthieß (Universität Trier) hat dafür alle 453 größeren und kleineren Versprechen der Bundesregierung angeschaut und überprüft, was aus ihnen bislang geworden ist.

Mehr Geld für Kinder und schnellere Einbürgerung

Darunter sind so dicke Brocken, wie der Kampf gegen Kinderarmut und die dafür vorgesehene finanzielle Kindergrundsicherung, über die sich die Regierungskoalition wochenlang öffentlich gestritten hat. Inzwischen wurde ein Kompromiss gefunden. Oder das neue Staatbürgschaftsrecht, um schneller einen deutschen Pass zu bekommen. Auch auf dieses zentrale Anliegen haben sich SPD, Grüne und FDP erst nach heftigen Auseinandersetzungen verständigt.

Solche und andere Streitthemen sind es, die das Bild der Regierung in großen Teilen der Bevölkerung prägen und die Unzufriedenheit wachsen lassen. Dabei sind laut Studie schon fast zwei Drittel der Koalitionsversprechen entweder komplett umgesetzt oder zumindest auf den Weg gebracht.

Öffentlich inszenierter Streit und offene Baustellen

Unter diesem Eindruck fasst Robert Vehrkamp das Ergebnis zusammen: "Eine insgesamt sehr vielversprechende Halbzeitbilanz, die aber überschattet und geprägt ist von öffentlich inszeniertem Koalitionsstreit und vielen offenen Baustellen."

Aus Sicht des Studienteams ist der 2021 geschlossene Koalitionsvertrag schon wegen seiner großen Zahl an Versprechen sehr ambitioniert. Im Vergleich mit der vorher regierenden Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen (CDU/CSU) hat sich die Zahl von 296 auf 453 erhöht. Das wegen seiner Parteifarben Rot (SPD), Grün und Gelb (FDP) im Volksmund als Ampel bezeichnete Bündnis hat sich also gut 50 Prozent mehr konkrete Ziele vorgenommen.

Der Kopf ist nicht zu sehen, aber die Hände sind im Bild. Sie gehören zu Bundeskanzler Olaf Scholz, der den Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP zwischen seinen Fingern hält. Der Titel lautet: "Mehr Fortschritt wagen".
Diese Hände gehören zu Olaf Scholz, der im Dezember 2021 den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP präsentiertBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Koalitionsvertrag mit vielen Versprechen und großen Ambitionen

"Die große Anzahl der Versprechen spiegelt zum einen die Komplexität der Ampel als einer lagerübergreifenden Koalition aus drei programmatisch eigenständigen Parteien, zum anderen aber auch das höhere Ambitionsniveau des Ampel-Vertrages wider", erläutert Theres Matthieß von der Universität Trier. 

Im Kontrast dazu steht die öffentliche Wahrnehmung der Ampel-Regierung: Nur 12 Prozent meinen, dass von den vereinbarten Koalitionsversprechen "alle, fast alle oder ein großer Teil" umgesetzt werden. Sogar 43 Prozent gehen davon aus, es werde nur "ein kleiner Teil oder kaum welche" umgesetzt.

Neustart der Zusammenarbeit und Selbstdarstellung?

Um ihr Ansehen in der Bevölkerung zu verbessern, brauche die Bundesregierung einen Neustart in ihrer koalitionsinternen Zusammenarbeit und Selbstdarstellung, meint Wolfgang Schröder von der Berliner Denkfabrik Das Progressive Zentrum, die an der Analyse beteiligt war. Sein Fazit: "Der öffentlich inszenierte Koalitionsstreit führt dazu, dass die tatsächliche Regierungsleistung und Umsetzungstreue unterschätzt wird."

Die Studienergebnisse scheinen ein Dilemma widerzuspiegeln, mit dem politische Bündnisse in Deutschland offenbar grundsätzlich konfrontiert sind: "Eine große Herausforderung für alle Koalitionsregierungen und -parteien in Deutschland bleibt die geringe Frustrationstoleranz und Kompromissbereitschaft im Urteil der Wählenden", schreiben Robert Vehrkamp und Theres Matthieß.

Wenig Akzeptanz für politische Kompromisse

Zwar hielten es 85 Prozent für "sehr wichtig oder wichtig"", dass die Parteien ihre in Wahlprogrammen enthaltenen Ziele und Vorhaben auch tatsächlich umsetzen. Aber gleichzeitig billigten ihnen nur 40 Prozent zu, dass es auch "akzeptable Gründe" dafür geben könne, ihre Wahlversprechen nicht einzuhalten. Von denen wiederum sehe nur weniger als ein Drittel (31 Prozent) in der Notwendigkeit von Kompromissen einen akzeptablen Grund, Versprechen womöglich nicht einzuhalten. 

"Es scheint, als würden viele Menschen in der auf Kompromisse angelegten und angewiesenen parlamentarischen Regierungsform eher einen Verrat an den Prinzipien und Idealvorstellungen der Parteien sehen", vermutet das Studien-Duo Vehrkamp/Matthieß.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland