Stolpersteine in der Russland-Politik
6. Januar 2022Im Koalitionsvertrag , Grundlage für die Bundesregierung aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP), steht ein Satz, der schnell an Grenzen stoßen könnte: "Die deutsche Außenpolitik soll aus einem Guss agieren und ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten, um die Kohärenz unseres internationalen Handelns zu erhöhen." Umgangssprachlich ließe sich das verkürzt so formulieren: Wir wollen geopolitisch an einem Strang ziehen.
Nord Stream 2 ein "rein privatwirtschaftliches Projekt"?
Das ist zunächst eine Absichtserklärung. Denn dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seine Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zuweilen Meinungsverschiedenheiten haben, lässt sich besonders am Beispiel Russland illustrieren. Als Kanzlerkandidatin im Bundestagswahlkampf wetterte Baerbock gegen die Inbetriebnahme der nach Deutschland führenden russischen Gas-Pipeline Nord Stream 2. Sie argumentierte, Deutschland würde sich damit in der Energie-Politik von Kreml-Chef Wladimir Putin abhängig machen. Scholz hingegen nennt die Unterwasser-Röhre ein "rein privatwirtschaftliches Projekt".
Im Zweifelsfall muss Außenministerin Baerbock nun also Positionen mittragen, die sie als Oppositionspolitikerin noch abgelehnt hat wie eben Nord Stream 2. Die Inbetriebnahme könnte allerdings noch am Veto der Bundesnetzagentur scheitern. Diese hält eine Entscheidung im ersten Halbjahr 2022 für unwahrscheinlich. Geprüft werden primär europarechtliche Fragen.
Annalena Baerbocks Schulterschluss mit Antony Blinken
Neue außenpolitische Brisanz könnte der latente Pipeline-Streit aber schon früher entfachen, falls es zu einer weiteren Eskalation in der Ukraine-Krise kommen sollte. Darüber sprach Baerbock beim Antrittsbesuch in Washington mit ihrem US-amerikanischen Amtskollegen Antony Blinken. Man habe sich darauf verständigt, "dass wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern effektive Maßnahmen ergreifen werden, sollte Russland Energie als Waffe benutzen oder sollte es zu weiteren aggressiven Handlungen kommen".
Eine deutliche Warnung der deutschen Außenministerin an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, die bei Kanzler Scholz keinen Widerspruch auslösen dürfte. Denn rhetorisch bewegte sich Baerbock damit im Rahmen dessen, was im Koalitionsvertrag zum Umgang mit Russland generell steht: "Wir fordern ein unverzügliches Ende der Destabilisierungsversuche gegen die Ukraine, der Gewalt in der Ostukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim."
Olaf Scholz und die Russland-Politik
Dass Putin die 2014 annektierte Halbinsel Krim an die Ukraine zurückgibt, dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Um die deutsche Position gegenüber dem russischen Präsidenten nicht zu schwächen, ist eine eng abgestimmte Strategie zwischen Kanzleramt und Außenministerium unverzichtbar. Zweifel daran äußerte die traditionell gut vernetzte Boulevard-Zeitung "Bild": Der Kanzler wolle die Russland-Politik zur Chefsache machen, heißt es in einem - von offizieller Seite unbestätigten - Bericht.
Von einem "qualifizierten Neuanfang" soll die Rede sein. Geplant sei ein Treffen zwischen Scholz und Putin, möglicherweise noch im Januar, auch das wurde nicht bestätigt. Dass der Regierungschef den Kurs vorgibt, wäre keine Überraschung. So steht es schon in der Verfassung. In Artikel 65 des Grundgesetzes heißt es: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung."
"Was wir brauchen, ist eine neue Ostpolitik"
Mit anderen Worten: Olaf Scholz hat das Sagen. Außenpolitik wird seit jeher auch im Kanzleramt gemacht. Dabei hat der Einfluss aus der Regierungszentrale im 21. Jahrhundert stark zugenommen. Dafür steht allen voran die von 2005 bis 2021 regierende Christdemokratin Angela Merkel. Sie hat das Bild Deutschlands in der Welt in den 16 Jahren ihrer Amtszeit maßgeblich geprägt.
Ihr Nachfolger, so scheint es, will daran anknüpfen, aber auch neue Akzente setzen: "Was wir brauchen, ist eine neue Ostpolitik", sagte Scholz schon als Kanzlerkandidat im DW-Interview.
Mit dem Begriff "neue Ostpolitik" weckte er Erinnerungen an die Entspannungspolitik unter dem 1969 gewählten ersten SPD-Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt. Dessen langfristiges Ziel: den sogenannten Kalten Krieg mit der damaligen Sowjetunion und den anderen kommunistischen Staaten zu beenden. Erreicht wurde dieses Ziel 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung 1990.
Scholz setzt auf Dialog
"Es muss ein Miteinander in der Welt stattfinden, auch mit Regierungen, die ganz anders sind als die unsere", sagte Scholz kurz nach seiner Vereidigung im ZDF. In der Zeit von Willy Brandt sprach man von einem "Wandel durch Annäherung". Im DW-Interview hatte Scholz 2021 gesagt, er werbe dafür, dass "Russland und andere akzeptieren, dass es die weitere Integration Europas geben wird".
Im Koalitionsvertrag der 2021 gewählten Bundesregierung heißt es in Bezug auf Russland: "Wir wissen um die Bedeutung von substantiellen und stabilen Beziehungen und streben diese weiterhin an. Wir sind zu einem konstruktiven Dialog bereit."