Wie zukunftssicher ist die deutsche Wirtschaft?
30. Juni 2017Stuttgart ist ein einziger Stau. Gefühlt jede Ampel schaltet auf Rot, wenn wir in der Innenstadt mit Tempo 15 - mehr geht oft nicht - auf sie zu schleichen. Vor, hinter und neben uns ein einziges Meer von Autos - silberglänzende, moderne Karossen: die große Mehrheit trägt den berühmten Stern.
Trotz Verkehrschaos - der Region geht es insgesamt blendend. Baden-Württemberg liegt in wirtschaftlichen Statistiken im Deutschland- und EU-Vergleich immer vorne: Arbeitslosigkeit unter vier, Wachstum über drei Prozent. Große Automarken wie Daimler und Porsche haben hier ihren Stammsitz, aber auch der Mittelstand - die Säule der deutschen Wirtschaft: Jeder Zweite arbeitet hier in einem Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern.
Baden-Württemberg brummt - noch?
Geht’s auch in Zukunft so gut weiter? Bei Daimler sieht man die Zukunft elektrisch. Die Firma habe 10 Milliarden Euro in E-Mobilität und eine weitere Milliarde in Batterie-Fabriken dafür investiert, erzählt uns Jürgen Schenk, Chefingenieur der Elektroautos bei Daimler.
Daimler schützt seine Forschung mit allen Mitteln. Die Produktionshallen besuchen oder gar filmen dürfen wir nicht. Wir gehen ins Mercedes Benz-Museum nebenan. Von außen ein futuristisches Gebäude aus Glas und Stahl – innen viel Geschichte der erfolgreichen Marke. Wer hier nach E-Mobilität sucht, findet in der Ausstellung lediglich ein paar Elektroautos und drei Motoren.
Problem sei, dass deutsche Kunden Elektroautos immer noch nicht gut annähmen, sagt Schenk. Die Politik müsse helfen, die Infrastruktur dafür zu verbessern, zum Beispiel mehr Ladestationen würden gebraucht.
Unsicherheit bei Beschäftigten
Morgens vor Schichtbeginn fangen wir Mitarbeiter von Daimler vor den Werkstoren in Untertürkheim ab. Hier sorgen sich viele, wie sich die E-Mobilität auf die Arbeitsplätze auswirken wird. Ein Entwickler von LKW-Motoren, der seit 1985 bei Daimler arbeitet, beschreibt, wie sich die Branche verändert hat: "Heftig, und es wird noch viel heftiger: Jetzt kommt die ganze Elektrifizierung dazu, wo auch die technische Umstellung Sorgen bereitet." Er werde diese große Aufgabe aber nicht mehr mittragen. "Das ist für die nächste Generation."
Im europäischen Vergleich der Regionen liegt Baden-Württemberg in Sachen Innovation unangefochten ganz vorne- vor der Region East of England und Berlin. Das Bundesland investiert 4,8 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung - weit mehr als die drei Prozent, die die EU empfiehlt.
Wo ist das Auto in 20 Jahren?
Im Westen Stuttgarts ist das sichtbar in Form der ARENA 2036 - der nach eigenen Angaben größten Forschungsplattform für Mobilität in Deutschland. Seit 2015 tüfteln hier Wissenschaftler mit Wirtschaftlern gemeinsam an der Zukunft des Automobils. ARENA steht für "Active Research Environment for the Next Generation of Automobiles". 2036 steht für den 150jährigen Geburtstag des Autos. Am 29. Januar 1886 nämlich meldete Carl Friedrich Benz das Patent für das erste Auto der Welt an.
In der etwa fußballfeldgroßen Halle von ARENA 2036 forschen die großen Namen: Bosch, Rexroth, KUKA, Daimler. Detailfotos sollen wir lieber nicht machen. Aber auch der Mittelstand macht sich hier fit in Sachen Digitalisierung. Das Fraunhofer Institut hat hier sein 1000 qm großes "Future Work Lab" eingerichtet.
Lebenslanges Lernen
Die größte Herausforderung sei die Qualifizierung der Mitarbeiter, sagt Diplomingenieur Jörg Castor vom Fraunhofer-Institut. Auch nach dem Studium müsse es weitergehen: "Technologien verändern sich schnell. Wir haben Leute im mittleren Alter, die herkömmliche Prozesse gut kennen und darin sehr gut sind, das jetzt aber möglicherweise zukünftig mit digitalen Technologien verknüpfen dürfen. Das erfordert meiner Meinung nach konstante Fortbildung."
Auch der große Stolz des deutschen Bildungssystems, die duale Ausbildung, müsse verändert werden, so Castor - weg von reinen manuellen Tätigkeiten hin zu technisch gestütztem Arbeiten. Das sei aber zu schaffen.
Deutschland - in Zukunft nur "fast follower"?
Nikolai Ensslen hat da größere Bedenken. Er ist der Geschäftsführer von Synapticon in Schönaich, außerhalb von Stuttgart. Die Firma gilt als eine der innovativsten Start-ups des Landes. Synapticon baut intelligente Steuerungssysteme für Roboter. Also gewissermaßen "Gehirne" für Roboter, in Form von kleinen intelligenten Chips.
Ensslen mahnt, die deutsche Wirtschaft stehe zwar momentan gut da. Aber in Sachen Innovation sei Deutschland nur noch "fast follower", also schneller Verfolger- jetzt schon abgeschlagen hinter dem US-amerikanischen Silicon Valley und Tel Aviv in Israel.
Mehr Software, weniger anfassbare Maschinen
"Die beste Erklärung, die ich bisher dafür gefunden habe, liegt darin, was die Deutschen gern tun und gut tun. Das sind die Kategorien Präzision, Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit. Deswegen sind wir im Maschinenbau so gut. Solche Themen spielen in der Welt der virtuellen Software fast überhaupt keine Rolle."
Immerhin habe in Deutschland eine Debatte über das Thema Industrie 4.0 und Digitalisierung eingesetzt, so Ensslen. Aber er glaubt, um wirklich auch weiterhin vorne mitspielen zu können, brauche Deutschland nicht weniger als eine neue - digitale - Gründerzeit. Davon werde der wirtschaftliche Erfolg des Landes abhängen.