Was man über das umkämpfte Sjewjerodonezk wissen muss
9. Juni 2022
Nachrichtensprecher weltweit tun sich schwer damit, Sjewjerodonezk auszusprechen, wenn sie die Berichte über die schweren Kämpfe in der ostukrainischen Stadt anmoderieren. Dazu kommt: Die Lage ist unübersichtlich: Mal rücken die russischen Streitkräfte vor, mal werden sie von der ukrainischen Armee aufgehalten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beschrieb es so: In Sjewjerodonezk werde sich "in erheblichem Maße" das Schicksal des Donbass entscheiden. Fest steht: Es ist momentan der heißeste Ort des Krieges.
Sjewjerodonezk und das benachbarte Lyssytschansk sind die letzten großen Städte in der Region Luhansk, die noch unter der Kontrolle von Kiew stehen. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs konzentriert Russland sich gerade auf die Eroberung von Sjewjerodonezk. Die ukrainischen Truppen, die die Region verteidigen, laufen währenddessen Gefahr, wie in Mariupol eingeschlossen zu werden.
Zentrum der ukrainischen Chemie-Industrie
Sjewjerodonezk hatte vor dem Krieg etwas mehr als 100.000 Einwohner. Die Stadt entstand zu Sowjetzeiten aus einer Ortschaft in der Nähe der Chemiefabrik "Asot", der größten in der Ukraine. Die neue Stadt an der Grenze der Regionen Luhansk, Donezk und Charkiw erhielt ihren Namen in den 1950er-Jahren vom Fluss Siwerskyj Donez.
Eigentümer des Chemiewerks "Asot" ist der seit 2014 in Österreich lebende Oligarch und Medienmagnat Dmytro Firtasch, dem wegen Korruptionsverdachts eine Auslieferung an die USA droht. Sein Unternehmen in Sjewjerodonezk produziert vor allem Düngemittel, die größtenteils exportiert werden.
In den vergangenen Jahren hatte das Werk, wie viele andere Fabriken in der Region, aufgrund des Konflikts im Donbass mit Produktionsunterbrechungen zu kämpfen. Neben "Asot" gibt es in Sjewjerodonezk weitere Chemieunternehmen. In der Nachbarstadt Lyssytschansk ist eine Ölraffinerie angesiedelt, die früher russischen Geschäftsleuten gehörte, aber schon lange nicht mehr in Betrieb ist.
Separatismus im Donbass
Sjewjerodonezk ist außerdem dafür bekannt, dass dort vor 20 Jahren der erste Versuch unternommen wurde, die Ukraine zu spalten. Am 28. November 2004 trat in der Stadt der sogenannte "Allukrainische Kongress der Abgeordneten aller Ebenen" zusammen, an dem hauptsächlich Vertreter der prorussischen "Partei der Regionen" teilnahmen.
Die Partei war im Donbass entstanden und dominierte die Region. Vor dem Hintergrund der prowestlichen "Orange Revolution" in der Hauptstadt Kiew drohte sie mit der Ausrufung einer Autonomie mit Charkiw als ihrem Zentrum. Die Autonomie sollte die acht östlichen und südlichen Regionen der Ukraine sowie die Krim und Sewastopol umfassen.
Auf dem Kongress trat als Redner der damalige Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow auf, der einst in jungen Jahren im "Asot"-Werk gearbeitet hatte. Luschkow wurde später sogar zum Ehrenbürger von Sjewjerodonezk ernannt, obwohl ihm die ukrainischen Behörden schon damals wegen seiner separatistischen Äußerungen zu Sewastopol die Einreise ins Land verboten hatten.
Die Initiatoren des "Allukrainischen Kongresses" beließen es 2004 bei allgemeinen Drohungen. Für viele Beobachter jedoch gilt die Zusammenkunft als erster, wenn auch erfolgloser Versuch, eine formale politische Spaltung der Ukraine zu erreichen.
Der zweite Anlauf erfolgte zehn Jahre später, im Frühjahr und Sommer 2014. Nachdem die ukrainische Halbinsel Krim von Russland annektiert worden war, besetzten bewaffnete lokale Separatisten gemeinsam mit Kosaken, die aus Russland gekommen waren, die drei benachbarten Städte Sjewjerodonezk, Lyssytschansk und Rubischne.
Die ukrainische Armee befreite die Region in der zweiten Julihälfte 2014. Daraufhin wurde Sjewjerodonezk zum Zentrum der militärisch-zivilen Verwaltung der Region. Dorthin zogen verschiedene Institutionen und Hochschulen aus Luhansk um. Nun haben sie erneut ihren Sitz gewechselt, diesmal in die Westukraine.
Strategische Bedeutung von Sjewjerodonezk
Sjewjerodonezk und das benachbarte Lyssytschansk sind von strategischer Bedeutung, weil dieser Teil des Donbass die Verbindung zu anderen Regionen der Ukraine herstellt. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf die Autobahn, die Lyssytschansk mit Bachmut in der Region Donezk verbindet. Über sie wird das ukrainische Militär versorgt, und bis vor kurzem lief über sie auch die Evakuierung von Zivilisten. Wegen Beschusses gilt diese Straße heute aber als zu gefährlich.
Eine Einnahme von Sjewjerodonezk und Lyssytschansk würde es der russischen Armee ermöglichen, die Verwaltungsgrenze der Region zu erreichen. Zudem könnte von dort aus ein Vormarsch der russischen Armee weiter nach Westen in Richtung Kramatorsk, einem weiteren Verwaltungszentrum in der Region Donezk, erfolgen. Kramatorsk ist eine der letzten großen Industriestädte, die im Donbass noch vollständig von Kiew kontrolliert werden.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk