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Politik

Mehr Eigenständigkeit

Frank Sieren
15. Februar 2019

Die Deutschen nabeln sich von den USA ab. Sie halten nunmehr selbst China für einen verlässlicheren Partner. Ein wichtiger Schritt zu mehr Eigenständigkeit in einer multipolaren Weltordnung, meint Frank Sieren.

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Deutschland Germany: Hundreds protest against Donald Trump in Berlin
Bild: picture alliance/ZUMAPRESS/W. Effenberger

Es ist eine Umfrage, die aus deutscher Perspektive sehr deutlich zeigt, wie sich die tektonischen Platten der Weltordnung verschieben: 42 Prozent von über 5000 repräsentativ befragten deutschen Wählern sind der Meinung, dass China "eher" oder "eindeutig" ein "verlässlicherer" Partner als die USA sind. 38 Prozent sind unentschieden. Und nur noch 25 Prozent halten die USA für "eher" oder "eindeutig" verlässlich. In der Rubrik "eindeutig" sind es sogar nur noch knapp neun Prozent. Die Studie hat nicht die chinesische Regierung in Auftrag gegeben, sondern die traditionell amerikafreundliche Vereinigung der Atlantik-Brücke, die 1953 gegründet wurde und deren Vorsitzender Friedrich Merz ist, der jüngst im Kampf um den CDU-Vorsitz gegen Annegret Kramp-Karrenbauer knapp unterlag. Durchgeführt wurde die Umfrage vom  Berliner Meinungsforschungsinstitut Civey.

Norbert Röttgen (CDU), im Vorstand der Atlantik-Brücke und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, nennt die Ergebnisse "in ihrer Klarheit überraschend". Er wirft den Deutschen widersprüchliches Denken vor, "eine Art Paradox". Einerseits sagen die Wähler "wir müssen uns distanzieren und entfernen von den USA. Aber gleichzeitig würde das ja bedeuten, dass irgendjemand die Verantwortung wahrnehmen muss. Und das ist nach Lage der Dinge in Europa vor allen Dingen Deutschland. Aber ein mehr an Engagement anstelle der USA, das kommt für die große Mehrheit auch nicht in Frage." In der Tat sprachen sich fast 80 Prozent der Befragten gegen ein größeres militärisches Engagement der Bundeswehr in der Welt aus. Nur knapp 15 Prozent waren dafür. Auf der Basis dieses Widerspruches könne man keine Politik machen, so Röttgen. 

Oder vielleicht doch?

China und Russland sind keine Krisenherde

Knapp die Hälfte der Befragten wollen die nationalen Streitkräfte durch eine europäische Armee ersetzen. Weitere 12 Prozent sind immerhin unentschieden. Für eine solche Armee wäre die Mehrheit der Bevölkerung sogar bereit, 50 Prozent und mehr für Verteidigung auszugeben, als die Bundesregierung derzeit bereitstellt. Gleichzeitig finden die Deutschen offensichtlich, dass andere Weltregionen ihre Probleme vernünftigerweise selbst lösen sollen. Fast die Hälfte der Befragten hält die deutsche Außenpolitik global für wirkungslos. Eine realistische Einschätzung, denn selbst als das wirtschaftlich stärkste Land Europas ist Deutschland alleine zu klein.

Frank Sieren *PROVISORISCH*
DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Auch die immer wieder beschworene Bedrohung durch China und Russland empfinden die deutschen Wähler als nicht so schlimm. Die Frage, ob sich die Ausweitung der chinesischen Einflusszone zu einem "gefährlichen Krisenherd" auswachsen könnte, wurde von nur rund zwei Prozent mit einem "Ja" beantwortet. Es ist also kaum messbar. Ähnlich sieht es übrigens bei Russland aus. Auch das eine realistische Einschätzung: Russland und China sind Chance und Herausforderung für Deutschland, aber eben keine gefährlichen Krisenherde. 

Beim Thema Nahost (Syrien, Iran, Türkei) ist das schon anders. Da äußerten sich knapp zehn Prozent besorgt. Bei der Spaltung der EU sogar 15 Prozent. Als die gefährlichsten Themen gelten auf der eine Seite des politischen Spektrums Rechtspopulismus und Protektionismus (31 Prozent) und auf der anderen Seite die Migration (gut 18 Prozent). Das war so zu erwarten. 

Alles in allem wünschen sich die Deutschen, dass Europa enger zusammenrückt und eigenständiger wird und sie sind bereit, dafür zu bezahlen. Damit kann man arbeiten.

Andere Vorstellungen als Washington

Die USA können dabei eine geringere Rolle spielen, weil wir Europäer eben andere Vorstellungen haben, wie die Welt regiert werden soll.  Das bedeutet ja nicht, dass Europa gar nicht mehr mit den USA zusammenarbeitet, sondern vor allem, dass für Europa die Optionen größer werden, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Zum Beispiel in der Iran-Frage, wo vor allem die deutsche Politik gemeinsam mit Peking den damaligen Präsidenten Barack Obama überzeugt hat, die Sanktionen gegen den Iran wieder aufzuheben. US-Präsident Donald Trump hat das Abkommen wieder einseitig aufgekündigt. Über Zweidrittel der Deutschen sind heute dafür, dass Deutschland am Atomabkommen mit dem Iran trotz des Widerstands der USA festhalten sollte. Das ist ermutigend. 

Denn je eigenständiger, je geschlossener Europa ist, desto eher ist es in der Lage, seine Interessen durchzusetzen, mal zum Beispiel mit China und gegen die USA, mal gegen China und mit den USA. Das haben die Deutschen offensichtlich gut verstanden.

Insofern ist die Einstellung der Deutschen zur internationalen Politik nicht nur vernünftig und realistisch, sondern auch sehr fortschrittlich im Sinne einer multipolaren Weltordnung. Denn die funktioniert vor allem dann, wenn es mehrere ähnlich starke globalen Zentren gibt, die sich gegenseitig austarieren.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.