Einhörner und Betonmischer
4. Oktober 2017In China sind Einhörner keine Seltenheit mehr. 15 neue Exemplare wurden seit Anfang des Jahres gesichtet, nirgendwo scheinen sie derzeit so gut zu gedeihen wie hier. Gemeint sind nicht etwa die scheuen Fabelwesen aus dem Mittelalter oder das beschuppte Qilin-Wundertier aus der chinesischen Mythologie. Als "Einhorn" gelten in der Startup-Szene meist im IT-Sektor tätige Unternehmen, die nicht älter als zehn Jahre und bereits über eine Milliarde US-Dollar wert sind. Derzeit existieren weltweit 215 dieser erfolgreichen Startup-Newcomer, 107 davon stammen aus den USA, 23 aus Europa. China holt im Galoppschritt auf. 2014 schafften es gerade mal acht chinesische Unternehmen auf die sagenumwobene Liste der Einhörner. Heute besteht die Herde schon aus 56 - also mehr als doppelt so viele wie in Europa.
Chinas Regierung greift Startups unter die Arme
Und das ist erst der Anfang. Denn die Ausgangsbedingungen für junge Unternehmer in China werden immer besser. Während chinesische Studenten früher nach dem Studium oft der Karriere wegen im Ausland blieben, kehren heute im Schnitt 17 von 20 in ihre Heimat zurück. Der Grund: Die Regierung ist nicht kleinlich, wenn es um die Förderung von Startups geht. Besonders Jungunternehmer, die sich mit Zukunftstechnologien wie Elektromobilität, Robotik oder künstlicher Intelligenz beschäftigen, haben gute Chancen von der chinesischen Regierung Unterstützung in Milliardenhöhe zu erhalten.
Nach den USA ist China bereits jetzt der zweitgrößte Markt für Wagnis- und Wachstumskapital. Um die 77 Milliarden US-Dollar flossen zwischen 2014 und 2016 in chinesische Startups. Ein rasanter Anstieg: zwischen 2011 und 2013 waren es noch 12 Milliarden. Auch wenn in den USA noch immer am meisten Geld investiert wird, haben sich im zweiten Quartal 2017 beachtliche Verschiebungen ergeben. Acht von zehn der weltweit größten Risikokapital-Deals fanden in Asien statt, sechs davon in Peking.
Chinesen adaptieren Technik schnell
Das einst als Land der Fälscher verschrieene China hat sich besonders im App-Markt zum Hightech-Innovator entwickelt. Smartphone-Apps sind aus dem Alltag der Chinesen nicht mehr wegzudenken. Die 735 Millionen Internetnutzer des Landes adaptieren neue Techniken schnell, wie man etwa an den weit verbreiteten Bezahl-Apps sieht, mit denen man mittlerweile sogar auf kleinen Gemüsemärkten seine Einkäufe tätigen kann.
Da Chinesen große Sparer sind, und das chinesische Pro-Kopf-Einkommen noch immer nur etwa ein Siebtel des deutschen beträgt, sind auch Sharing-App-Angebote sehr populär. Von Regenschirmen über Basketbälle bis hin zu Betonmischern lassen sich unzählige Waren und Dienstleistungen für wenig Geld mit dem Smartphone mieten. Sozialismus 4.0.
Ein wichtiger Motor des chinesischen Startup-Booms sind die Tech-Giganten Baidu, Alibaba und Tencent. Ihre Gründer wie Jack Ma oder "Pony" Ma Huateng werden von Jungunternehmern auf der ganzen Welt geradezu messianisch verehrt. In ihr Portfolio aufgenommen zu werden, ist für viele ein Traum und noch besser als von der Regierung gefördert zu werden. Als Teil der Firmenfamilie können sie von Anfang an auf Milliarden Kundendaten und eine schier unbegrenzte Nutzerzahl zugreifen. Wer es dann auf dem hart umkämpften chinesischen Markt geschafft hat, ist tendenziell stark genug, um global zu expandieren.
Expansion mit dem Fahrrad
Derzeit wagen etwa Bike-Sharing-Firmen wie Ofo und Mobike den Vorstoß in Länder wie die USA, Russland und Großbritannien. Der Fahrdienstanbieter Didi Chuxing, der 2015 aus der Fusion zweier Dienste von Alibaba und Tencent hervorging und mit einer Bewertung von rund 50 Milliarden Dollar das derzeit teuerste Digital-Startup Chinas darstellt, peilt die weltweite Vorherrschaft auf dem Markt für vernetztes und autonomes Fahren an. "Wir stellen uns definitiv global auf", sagt Jean Liu, die selbstbewusste Geschäftsfrau, die den US-Konkurrenten Uber in einem knüppelharten Wettbewerb aus dem China-Geschäft drängte.
Der chinesische Staat lässt den Startups Spielraum, um ihr Potential zu entfalten. Eine Fahrradflut zum Beispiel, wie sie die Bike-Sharing-Anbieter in ihrem Verdrängungswettbewerb auf Pekings Straßen entfesselten, wäre in deutschen Städten undenkbar. Startup-Zentren wie die südchinesische Stadt Shenzhen an der Grenze zu Hongkong bieten Jungunternehmern eine moderne und wachstumsfähige Infrastruktur. Chinas "Hardware-Silicon-Valley" war bis vor 30 Jahren noch ein muffiges Fischerstädtchen. Heute leben in der Sonderwirtschaftszone mehr als zehn Millionen Einwohner. Die Startups sitzen hier am selben Ort wie die Firmen, die die Technik herstellen. Gründer können so in kürzester Zeit Prototypen entwerfen und vor Ort in die Massenproduktion geben, beziehungsweise von den Erfahrungen der Hersteller profitieren.
Dadurch werden Entwicklungsprozesse beschleunigt und die Kosten gesenkt. Diesen Vorteil haben die Gründer im Silicon Valley nicht. Inkubatoren wie HAX bringen Ausländer und Chinesen zusammen. Joint-Ventures mit chinesischen Firmen sind für junge IT-Unternehmen, im Gegensatz zu den "alten" Industriezweigen wie der Auto- oder Logistikbranche, aber nicht verpflichtend.
Ein Vorbild für Deutschland?
Viele deutsche Gründer schauen bereits sehnsüchtig nach Fernost. Die Bedingungen für Startups sind in China besser als zu Hause, wo ihr Einfluss auf die deutsche Wirtschaftskraft noch immer hoffnungslos unterschätzt wird. Bürokratische Hürden lassen die Zahl der Neugründungen in Deutschland stagnieren und es fehlt vor allem an Risikokapital, besonders in der wichtigen ersten Wachstumsphase. Die Bundesregierung interessiert sich bisher kaum für das Thema. Vielleicht wird dies unter einer Jamaika-Koalition mit FDP-Chef Christian Lindner besser. Allerdings ist es schon fast zu spät, das Ruder noch herumzureißen. Ein Lebensraum für Einhörner lässt sich nicht über Nacht herstellen - auch nicht mit viel Geld. Vier einsame Einhörner zählt Deutschland, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die Herde in China, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, wird immer größer. Ihr Lebensraum könnte kaum besser sein.
Unser Kolumnist, der Bestseller-Autor Frank Sieren („Geldmacht China"), gilt als einer der führenden deutschen China Spezialisten. Er lebt seit über 20 Jahren in Peking.