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Deutsche und Erotik: Es ist kompliziert

Rachel Stewart | Katharina Abel
18. Mai 2022

Wie gut läuft es für die Deutschen im Bett? Das hat Rachel Stewart eine Frau gefragt, die es wissen muss. Ein Gespräch über sexuelle Nöte und Unsicherheiten.

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Regine Thoeren
Erotik-Expertin Regine ThoerenBild: DW

Regine Thoeren ist Expertin, wenn es um deutsche Vorlieben und Probleme rund ums Thema Sexualität geht: Sie hat 25 Jahre lang Kölns einzigen Erotik-Laden für Frauen geleitet. Ende 2019 hat die 65-Jährige "Lady's Toys" für immer geschlossen - die Konkurrenz aus dem Internet wurde zu groß. 

DW: Frau Thoeren, aufgrund der Corona-Krise haben die Deutschen in den letzten Jahren - notgedrungen - viel Zeit mit ihren Lieben zu Hause verbracht. Wie hat sich das wohl auf ihr Sexualleben ausgewirkt?

Leider wohl oft nicht gut! Denn es gibt mehr Gewalt an Frauen, auch mehr Gewalt an Kindern, das zeigen Studien. Die Menschen hocken auf zu engem Raum zusammen. Ich habe leider nichts Schöneres zu berichten. Es wird sicher eine kleine Zahl derer geben, die etwas Gutes aus der vielen Nähe gemacht haben, aber die sind in der Minderheit.

Flirten, daten, Sex: Die Deutschen und die Liebe

Sie kennen sich mit dem Liebesleben der Deutschen aus: Sie waren ein Vierteljahrhundert lang Eigentümerin eines Erotikshops für Frauen in Köln. Wie kamen Sie damals auf die Idee?

Der Grund dafür war, dass ich mich selbst niemals in einen normalen Sexshop hineingetraut hätte. Ich war aber neugierig. Und ich habe gedacht, es geht anderen Frauen bestimmt genauso. Und das hat mich bewogen, "Lady's Toys" zu eröffnen.

Hatten Sie mit Vorbehalten zu kämpfen?

Ja, das war sehr schwierig. Denn sobald ich gesagt habe, was ich mache, haben die Leute nicht mehr mit mir gesprochen. Das Gespräch verstummte sofort. Im Chor wollte keiner mehr neben mir sitzen, wenn die wussten, welchen Beruf ich hatte. Ich bin dann bei der Frage meist ausgewichen und habe gesagt, da können wir später einmal drüber reden. Viele nahmen auch an, ich sei lesbisch und würde den Laden nur für Lesben führen. Da musste ich drüber lachen. Es ist ja eigentlich gar kein großer Unterschied: Frau ist Frau.

In den ersten Jahren kamen nur der Stadtteilpolizist, der Postbote und der Straßenkehrer regelmäßig vorbei, um einen Kaffee bei mir zu trinken. Dafür war ich ihnen sehr dankbar, denn: Es kamen keine Kundinnen! Es war für die Frauen zu schwer, diesen Laden zu betreten. 

Wollten die Kundinnen, die sich dann hereinwagten, beraten werden?

Auf jeden Fall. Die Frauen erzählten zum Beispiel von ihren Orgasmusproblemen. Dann habe ich gesagt: Wieso Probleme? Willkommen im Club! Das kennen wir alle, das ist normal. Dann haben wir darüber gesprochen, wo die Ursachen liegen, und was man ändern könnte. Dieses Gespräch wurde immer gesucht. Das war eigentlich Thema Nummer eins.

Es war mir immer ein großes Anliegen herauszufinden, was die Frauen und Männer, oder zwei Frauen, brauchten. Und es war so schön, wenn sie dann glücklich aus dem Laden geschwebt sind, weil sie endlich einmal etwas ausgesprochen hatten, was sie sich vorher nie getraut hatten. Dazu ist es leichter, wenn bei einem Gespräch über Sexualität die Geschlechter zunächst getrennt werden. Später kann man dann vielleicht zusammen sprechen. Sobald ein Mann dazukommt, trauen sich viele Frauen nicht mehr, so frei zu sprechen. Das war ganz deutlich. Deswegen gab es in meinem Laden nur an zwei Tagen in der Woche für Männer die Möglichkeit, in Begleitung einer Frau zu kommen.

Wie alt waren Ihre Kundinnen?

Zwischen 18 und über 80, aber die meisten waren 50-/60-Jährige. Diese Frauen waren irgendwann bereit zu sagen, ich habe so lange die Phantasien meines Mannes bedient, jetzt kümmere ich mich um meine eigenen. So kam eine betagte Dame zu mir und sagte: Mein Mann findet den Punkt seit 20 Jahren nicht, mir reicht's, ich kaufe mir einen Vibrator.

Lachende Frau inmitten bunter Dildos
Regine Thoeren mit bunter Ware in ihrem ShopBild: Jan Tepass

Was waren die beliebtesten Produkte?

Im Grunde haben wir von den Vibratoren gelebt, die für die klitorale Stimulation bestimmt sind. Es ist ja meist so, dass die Klitoris beim normalen Geschlechtsverkehr zu kurz kommt, und wenn man so einen Vibrator dann an die Klitoris hält, hat die Frau auch ein bisschen mehr davon. Die Vibratoren sind in Aussehen und Handhabung immer frauenfreundlicher geworden. Ursprünglich gab es ja fast nur die Penisform, die ist gar nicht so beliebt. Jetzt sind sie als Waffeleis (Artikelbild, Anmerkung der Redaktion) oder Macaron zu haben, in pink, lila oder grün. Die Männer in meinem Laden haben oft gefragt: "Warum ist hier alles so bunt?" Weil wir Frauen es lieben!

Gibt es beim Thema sexuelle Befriedigung Unterschiede zwischen deutschen und anderen Frauen?

Nach allem, was ich so mitbekommen habe, würde ich sagen, die deutschen Frauen leiden genauso wie alle Frauen auf der ganzen Welt darunter, nicht befriedigt zu sein. Ich hatte ein internationales Publikum, und wir haben uns manchmal so köstlich amüsiert, wenn eine Frau eine Bemerkung über ihr Sexualleben gemacht hat, denn alle kannten das. Das Eis war gebrochen, dann ging es richtig rund manchmal. Weil alle die gleichen Themen haben. Wie das mit den Männern funktioniert, wie die Männer es leichter haben, zum Orgasmus zu kommen, dass wir Frauen viel mehr "Drumherum" - Vorspiel, Nachspiel, Zwischenspiel, Hauptspiel - brauchen und so weiter. Und dann war man immer ein bisschen getröstet: Gott sei Dank, es ist nicht nur bei uns so! Dass wir so scheu sind, uns nicht trauen und denken: "Oh Gott, ich bin frigide!", das gibt es überall, in allen Kulturen.

Wie experimentierfreudig sind die Deutschen?

Das hängt sehr individuell von jedem Paar ab. Manchmal wollen die Männer alles ausprobieren, aber die Frauen nicht, und oft ist es auch umgekehrt. Ich glaube, wir schätzen die Männer viel sicherer ein, als sie sind. Das habe ich erst spät kapiert: Es ist gar nicht, weil die Männer die Frauen nicht befriedigen wollen, sondern weil sie sehr unsicher sind. Einfach mal zu fragen, was brauchst du? Was kann ich für dich tun? Die Frau zu befriedigen und ihr die Lust zu gestatten - ich glaube, das macht den Männern oft Angst, weil sie fürchten, die Frau nicht mehr befriedigen zu können. Auch, wenn die Frauen einen Vibrator kaufen. Es kamen Frauen weinend zurück und sagten: Mein Mann erlaubt den Vibrator nicht. Viele haben das Spielzeug heimlich gekauft, weil der Mann nicht das Selbstbewusstsein hatte zu sagen, es ist nur eine kleine Erweiterung, ein Spiel. Ich finde, das wird zu hoch gehängt.

Würden Sie sagen, dass es in Deutschland mit der Zeit leichter wurde, über das Thema Sexualität zu sprechen?

Ich würde sagen, nur scheinbar. Nicht in der Tiefe. In den Medien wird das Thema allmählich enttabuisiert, denke ich. Es gibt im Fernsehen Vibrator-Werbung, das gab es vor zehn Jahren noch nicht. Und viele sagen heute, ich bin frei, ich kann darüber reden, aber da, wo es hingehört, in die Partnerschaft, da ist es am schwersten zu sprechen. Besonders in langjährigen Beziehungen. Da das richtige Wort zu finden für die Sehnsüchte, für die Träume, das ist genauso schwierig geblieben, glaube ich, wie vor 25 Jahren.

Ich finde, in Deutschland ist es inzwischen so, dass viele Dinge angeboten werden, die zur Aufklärung beitragen. Es gibt gute Bücher, es gibt Tantra-Seminare und Swinger-Clubs, wo Menschen ihre Lust leben können. Aber die große Mehrheit ist immer noch sehr zurückhaltend, scheu. Ich will nicht sagen: verklemmt. Aber sie wissen zu wenig. Es gibt zu wenig Aufklärung. Diese Aufklärung findet am besten statt in kleinen Gruppen oder im persönlichen Zwiegespräch, das ist das Leichteste. Die Sehnsucht nach erfüllter Sexualität ist bei allen da. 

Sind Sie zuversichtlich, dass sexuelle Freiheit und Befriedigung für die Frauen in Deutschland bald zur Normalität werden?

Ich fürchte, nein. Ich komme selbst aus einer katholischen Erziehung, in der Lust wenig zum Thema gemacht wurde. Ich glaube, dass wir im Christentum durch die Kirche da sehr geprägt sind. Und wir haben das auch nicht erst von der Mutter und der Oma, sondern das ist ein Jahrtausenderbe. Wir Frauen waren die Bedienerinnen der Männer, und über die eigene Lust etwas zu erfahren, das gibt es noch nicht so lange. Der weibliche Orgasmus ist ja, menschheitsgeschichtlich gesehen, erst kürzlich entdeckt worden. Ob wir jemals richtig frei sein werden? Ich glaube es nicht. Wir müssen das Gefühl finden. Gefühl für mich selbst und meine Sexualität, ist, glaube ich, eine Lebensaufgabe. Deshalb brauchen die meisten 50 oder 60 Jahre, bis sie es begriffen haben. Ich bin eine davon.

Welchen Tipp haben Sie für die Frauen in Deutschland und dem Rest der Welt?

Mach dich auf den Weg und sprich! Sprich mit deinem Mann, mit dir selbst, mit deinen Freundinnen. Alles wird leichter, wenn man sich traut, die Dinge aus dem Schatten zu holen.

Das Gespräch führte Rachel Stewart.

Mehr Inhalte über Deutsche und ihre Eigenarten, die deutsche Alltagskultur und Sprache finden Sie auf unserer Seite www.dw.com/meetthegermans_de sowie bei YouTube.

Dieses Interview wurde zuletzt am 19.05.2021 aktualisiert.