Serbiens Opposition beklagt Wahlbetrug: Proteste gegen Vucic
5. Februar 2024Die Liste der Missstände rund um die Parlaments- und Kommunalwahlen in Serbien am 17.12.2023 ist 45 Seiten lang. In einer aktuellen Verfassungsbeschwerde, die der DW vorliegt, hat das größte serbische oppositionelle Bündnis alles zusammengetragen. Seit Wochen fordert es Neuwahlen.
Die Kritik der Opposition richtet sich vor allem gegen Präsident Aleksandar Vucic und seine Serbische Fortschrittspartei (SNS). Ihre Mediendominanz im Wahlkampf habe der Opposition keine fairen Wahlbedingungen ermöglicht. Zudem soll es zu erheblichem Wahlbetrug gekommen sein. Von Stimmenkauf, Wahlfälschungen und Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenauszählung ist die Rede. Vor allem geht es um sogenannte "Phantomwähler".
Hierbei handelt es sich um Wähler, die, so der Vorwurf, unter fiktiven Adressen angemeldet wurden, um so an Orten, an denen eigentlich die Opposition Stimmenvorteile hätte, für die Serbische Fortschrittspartei zu stimmen.
In Belgrad, der Hauptstadt des Landes, seien allein rund 3000 solcher Vorfälle dokumentiert, heißt es in der Verfassungsbeschwerde. Und dies sei nur die Spitze des Eisbergs. "Auch ohne diese Wählermigration waren die Wahlen in Serbien nicht fair und demokratisch", urteilt der Politologe Dusan Spasojevic im DW-Gespräch.
"Die saubersten Wahlen"
Vucic herrscht seit zwölf Jahren mit eiserner Hand, hält die Justiz und die großen Medien an kurzer Leine. Vor den Wahlen schüttete er großzügig Geldgeschenke an Rentner, Studenten und frischgebackene Mütter aus.
Außerdem verteilt seine Partei Jobs im öffentlichen Dienst nach Parteibuch und sichert sich somit die Unterstützung seiner Anhänger. Einige einflussreiche Parteifreunde von Vucic und ihm nahestehende Geschäftsleute haben sich auf diese Weise über Jahre bereichert.
Geopolitisch laviert der serbische Präsident stets zwischen Russland und der EU. Auch mit China pflegt er beste Beziehungen und präsentiert sich im serbischen Fernsehen als großer Staatsmann.
So konnte er seiner Partei bei den Wahlen im Dezember erneut die absolute Mehrheit im Parlament sichern, und das, obwohl er selbst gar nicht zur Wahl stand.
In Belgrad, dem wirtschaftlichen Zentrum des Landes, wo die urbane und besser gebildete Bevölkerung eher regierungskritisch ist, fehlen seiner Fortschrittspartei und ihren langjährigen Partnern aus der Sozialistischen Partei nur noch zwei Abgeordnete für die Mehrheit im Stadtparlament. Diese könnten möglicherweise von einer neuen rechtspopulistischen Bewegung kommen.
In den vergangenen Wochen gingen immer wieder Tausende Menschen auf die Straße, protestierten gegen Wahlbetrug und forderten Neuwahlen.
Vucic zeigt sich von den Protesten weitgehend unbeeindruckt. Die Verfassungsbeschwerde der Opposition und auch die internationale Kritik zum Ausgang der Wahlen seien vom Westen gesteuert, um Serbien zu destabilisieren.
"Die letzten Wahlen waren die saubersten, seit wir das Mehrparteiensystem in Serbien haben", erklärte er am Freitag (2.02.2024). "Alle in Europa wissen, dass es keinen Wahlbetrug gegeben hat."
Boykott der Parlamentssitzung?
An diesem Dienstag (6.02.2024) kommen die 250 Abgeordneten zur ersten Parlamentssitzung zusammen. Die stärkste Oppositionskraft - das breite proeuropäische Bündnis "Serbien gegen Gewalt", das Parteien von links-grün bis konservativ vereinigt und über 65 Mandate verfügt - kündigte an, die erste Sitzung für Proteste nutzen zu wollen. Sie kritisiert, dass die regierende Fortschrittspartei die Sitzung einberufen habe, bevor das Europaparlament am Donnerstag (8.02.2024) erneut über den Ausgang der Wahlen in Serbien debattiert.
Auch der Abschlussbericht der OSZE-Beobachtermission wird noch mit Spannung erwartet. In ersten Statements der Wahlbeobachter wurde ebenfalls bereits mehrfach auf Fälle von Wahlbetrug, Stimmenkauf und die für die Opposition unüberwindliche Mediendominanz von Vucic im Wahlkampf hingewiesen.
Deswegen will die früher mitregierende Demokratische Partei, die zu dem Bündnis Serbien gegen Gewalt gehört, die Parlamentssitzung ganz boykottieren.
"Seit Wochen rufen wir die Bürger zu Protesten auf, verlangen vom Verfassungsgericht, die Wahlen zu annullieren und von der EU, die Wahlergebnisse nicht zu akzeptieren und uns dabei zu unterstützen, neue, freie und faire Wahlen zu organisieren", sagt Zoran Lutovac, Chef der Demokratischen Partei, gegenüber der DW. "Der ersten Sitzung des Parlaments beizuwohnen, wäre dann eine schlechte Botschaft in alle Richtungen."
Kritik auch aus Deutschland
Seit dem Urnengang im Dezember forderten etliche Wahlbeobachter sowie einige Abgeordnete des Europaparlaments und des Bundestags eine unabhängige Untersuchung.
Drei europapolitische Sprecher der Ampelparteien äußerten scharfe Kritik. Insbesondere die Wahlen zum Stadtparlament in Belgrad seien manipuliert worden, wo die proeuropäische Opposition realistische Chancen auf einen Sieg hatte. "Wir bezweifeln, dass das Ergebnis dem tatsächlichen Wählerwillen entspricht", schrieben Christian Petry (SPD), Chantal Kopf (Grüne) und Thomas Hacker (FDP) Mitte Januar.
Doch die SNS kann wohl mit der Unterstützung oder wenigstens einer sanfter verpackten Kritik aus den Reihen der größten Parteienfamilie Europas, der Europäischen Volkspartei, rechnen. Denn die SNS ist dort seit Jahren assoziiertes Mitglied.
Dass das EU-Parlament womöglich am Donnerstag auch eine scharfe Resolution verabschieden könnte, kümmert den Abgeordneten der SNS, Vladimir Djukanovic, wenig. "Jeder kann gerne über unsere Wahlen diskutieren, doch das Volk hat im Dezember gesprochen und das ist das Wichtigste", sagte er gegenüber der DW.
Die Proteste der Opposition seien nur eine weitere Ausrede für die erneute Wahlniederlage. "So vermeiden sie, ihren Wählern zu erklären, warum sie im Vorfeld völlig unrealistisch den Sieg versprochen haben", meinte Djukanovic.
Vucic wird als "Stabilokrat" gesehen
Für den Politologen Dusan Spasojevic ist es keine Überraschung, dass die SNS einfach zur Tagesordnung übergehen möchte. "So reagieren sie seit Jahren auf jegliche Forderungen der Opposition oder der Straßenproteste. Bisher hat das Ignorieren gut funktioniert."
Obwohl der Druck aus der EU wachsen könnte, erwartet kaum jemand, dass Brüssel oder Berlin die Wahlergebnisse offiziell ablehnen werden. Als sogenannter "Stabilokrat" werde Vucic auf dem Westbalkan weiter benötigt, hört man aus EU-Diplomatenkreisen immer wieder hinter vorgehaltener Hand. Die EU will unbedingt weiter an der Annäherung zwischen Kosovo und Serbien arbeiten. Vucic gilt hier vielen in Brüssel nach wie vor als Faktor für Stabilität.
Denn mitten in der politischen Krise zuhause hatte er erst kürzlich gebilligt, dass Fahrzeuge nun mit kosovarischen Kennzeichen frei durch Serbien fahren können.
Viele sehen dies als Zugeständnis. In Belgrad scheint man nun zu hoffen, mit der komfortablen Mehrheit für Vucics Fortschrittspartei ungestört weiter regieren zu können, trotz aller Kritik aus dem In- und Ausland.