Kind ertrunken: Klage gegen Küstenwache
17. März 2021Fast alle Bootsinsassen schafften es in jener Novembernacht an die Küste von Samos. Nur der sechsjährige Rafi* ist aus den eiskalten Fluten nicht mehr lebend aufgetaucht. Das Boot, in dem er sich mit seinem Vater Naser* und einer Gruppe anderer Geflüchteter befand, schlug gegen einen Felsen und kenterte. Über Stunden sollen die Schiffbrüchigen auf Hilfe gewartet haben.
Für den Anwalt Dimitris Choulis sind viele Fragen ungeklärt darüber, was in der betreffenden Nacht geschah. Er vertritt den 26-jährigen Naser aus Afghanistan. In seinem Namen hat er eine Klage gegen die griechische Küstenwache wegen unterlassener Hilfeleistung vorbereitet. Zurzeit wartet er noch darauf, dass die Staatsanwaltschaft in Samos sich der Sache annimmt. Die Pandemie verzögert die Arbeit am Gericht. Aber das Vorhaben ist jetzt bereits der erste bekannte Fall dieser Art in Griechenland.
Vorwurf: Gefährdung eines Minderjährigen
Was den Fall von Naser noch außergewöhnlicher macht: Auch gegen ihn läuft ein Verfahren wegen des Todes seines Sohnes. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Vater wegen Gefährdung eines Kindes mit tödlichem Ausgang. Das griechische Recht sieht hierfür fünf bis zehn Jahre Haft vor. Auch dies ist der erste bekannte Vorgang dieser Art - möglicherweise aber nicht der letzte, denn die konservative Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis scheint ihre Ankündigung, die Flüchtlingspolitik zu verschärfen, umzusetzen.
Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCR beobachtet die Entwicklungen in Griechenland mit Sorge. Sprecherin Stella Nanou sagte der DW, seit vergangenem Jahr gehe das strengere Grenzregime Griechenlands mit glaubwürdigen Anschuldigungen von Pushbacks einher. Das UNHCR fordert von den griechischen Behörden, solche "extrem beunruhigenden Anschuldigungen" zu untersuchen und das Grundrecht auf Asyl sicherzustellen.
Vorwurf: Unterlassene Hilfeleistung
Bei sogenannten Pushbacks werden Migranten und Geflüchtete unmittelbar zurück hinter die Grenze verbracht, die sie zuletzt überquert haben. Dadurch wird ihnen die Chance auf ein Asylverfahren verweigert. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind Pusbacks nicht per se illegal. Kritiker argumentieren jedoch, sie würden unter anderem gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Konvention für Menschenrechte verstoßen. Die griechische Küstenwache, die EU-Agentur Frontex sowie Grenzbehörden anderer EU-Staaten werden in mehreren Fällen beschuldigt, diese Art von Rückführungen von Migranten angewandt zu haben.
Genau diesen Vorwurf machen auch Naser und sein Rechtsanwalt Choulis der griechischen Küstenwache: "Wir glauben, dass sie versucht haben, die Gegend abzuriegeln und alle an der Küste zu sammeln, um von dort einen Pushback durchzuführen." Und deshalb habe man die Rettungsmaßnahmen bewusst hinausgezögert.
Vom Sturm aus dem Boot geworfen
In der Nacht vom 7. auf den 8. November verließen Naser und sein Sohn die Türkei, dicht gedrängt in einem kleinen Gummiboot. Ihr Asylgesuch dort war abgelehnt worden. Ihr neues Ziel war Europa. Die griechische Insel Samos erscheint vom türkischen Festland aus betrachtet zum Greifen nah. Etwa zwei bis drei Stunden habe die Gruppe im Boot gesessen, als ein Sturm aufzog. "Eine Seite des Boots war komplett unter Wasser, die andere Seite hing in der Luft", erzählt Naser. "Das Boot schlug mehrmals gegen die Felsen. Was danach passierte, weiß ich nicht mehr, nur dass ich irgendwann im Wasser war."
Die Überfahrt endete am Kap Praso, einem Landzipfel der im Nordosten von Samos ins Meer ragt. An dieser Stelle gibt es steile Klippen. Das Gelände und das davor liegende Ufer sind unwegsam. Aus dem untergehenden Boot geworfen gelang es Naser, sich an einen Felsen zu klammern, berichtet er. Er kann nicht schwimmen und die Wellen drückten ihn immer wieder unter Wasser. Irgendwann gelang es jemandem aus der Gruppe, ihn auf die Felsen zu ziehen. In dem Moment habe er realisiert, dass sein Sohn, den er gerade noch in seinen Armen gehalten hatte, nicht mehr bei ihm war. Auch andere Personen wurden vermisst, darunter eine im achten Monat schwangere Frau.
Den ersten Notruf sendete die Gruppe um 23.51 Uhr. Er ging per Whatsapp an die norwegische NGO Aegean Boat Report, einer Organisation, die solche Seenotfälle aufnimmt, an die Behörden weiterleitet und Rettungsmaßnahmen dokumentiert. So sollen öffentlicher Druck aufgebaut und Pushbacks verhindert werden.
Unbekannte Boote passieren die Unfallstelle
Die griechische Küstenwache gibt an, um 00.06 Uhr einen Notruf von Aegean Boat Report erhalten zu haben, mitsamt den GPS-Koordinaten der Gruppe sowie der Telefonnummer des Absenders. Was in den Stunden danach passierte, bleibt unklar. Die Küstenwache will sofort Boote zur Unglücksstelle geschickt haben. Bei einem Kontrollanruf von Aegean Boat Report um 01.18 Uhr gaben die Geflüchteten an, dass keine Hilfe vor Ort sei, berichtet die NGO der Deutschen Welle.
Tatsächlich seien noch in der Nacht Boote an der Unglücksstelle aufgetaucht, erzählt Naser. Allerdings nicht, um zu retten: "Sie haben Scheinwerfer auf das Wasser gerichtet. Es waren zwei Boote. Erst kam eins und hat auf das Meer geleuchtet und auf die Büsche. Sie sind dort einfach nur getrieben."
Er habe versucht, sich bemerkbar zu machen, jedoch ohne Erfolg, sagt Naser. Die Boote müssten die Gruppe aber gesehen haben. Dennoch fand der erste Kontakt zu den griechischen Beamten deutlich später statt: Ein Teil der Gruppe verließ den Unglücksort nach einiger Zeit, um im Landesinneren Hilfe zu holen. Naser führte sie an. Im Morgengrauen trafen sie schließlich auf Beamte. Diesen Kontakt um 06.40 Uhr bestätigt ein Bericht der Küstenwache. Zu diesem Zeitpunkt war Nasers Sohn Rafi seit mehr als sechs Stunden vermisst.
Die Küstenwache hüllt sich in Schweigen
Den Recherchen von Anwalt Dimitris Choulis zufolge hat die Küstenwache bis in die Morgenstunden nicht eingegriffen. Auch wurde die Europäische Grenzschutzagentur Frontex nicht über den Notfall informiert oder Hilfe angefordert, was Frontex der DW bestätigt.
Die Küstenwache in Samos, die für den Einsatz verantwortlich war, hat mehrere Interviewanfragen abgelehnt. Eine Sprecherin hat der DW schließlich mitgeteilt, die Küstenwache arbeite "professionell und unter Einhaltung der Menschenrechte". Desweiteren schreibt sie, man sei häufig Opfer unbegründeter Attacken in den sozialen Netzwerken, den Medien und von NGOs.
Im November allerdings hatte sich der Chef der Küstenwache von Samos, Dimitris Tsinias, einmal in der "New York Times" zu dem Fall geäußert. Er schildert dort einen zeitlichen Ablauf, der sich nicht im offiziellen Bericht wiederfindet und Fragen aufwirft. Dem Küstenwachen-Chef nach soll die von der Gruppe vermisste, schwangere Frau um 03.00 Uhr aufgefunden worden sein, Rafi um 06.00 Uhr morgens.
In dem offiziellen Bericht der Küstenwache, der an das Gericht von Samos ging, finden sich keine zeitlichen Angaben dazu. Nur, dass beide erst Stunden später, um 9.30 Uhr, in den Hafen von Vathy gebracht wurden. Sollte es sich so zugetragen haben, wäre die Küstenwache stundenlang einem toten Kind und einer hochschwangeren Frau in kritischem Zustand auf dem Wasser geblieben, nur Minuten vom rettenden Hafen entfernt.
Zweifel am Autopsiebericht
Weitere Fragen werfe der Autopsiebericht des Jungen auf, sagt Anwalt Choulis. Rafi wurde erst Tage nach dem Unglück von einer Gerichtsmedizinerin untersucht. Sie datiert seinen Tod auf 23.45 Uhr in der Unglücksnacht - genau 21 Minuten vor dem Notruf um 00.06 Uhr.
Dimitris Choulis glaubt nicht an einen Zufall. Er glaubt, es wurde Einfluss genommen: "Damit gibt es ein kleines Zeitfenster gibt, welches die Küstenwache entlastet", sagt er. Ein von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten bestätigt Choulis' Zweifel an der wissenschaftlichen Aussagekraft des Berichts. Demnach könne der genaue Todeszeitpunkt nach Tagen gar nicht mehr festgestellt werden, schon gar nicht mit solch einer Präzision. Der Autopsiebericht und das Gutachten liegen der DW nicht vor, die Ergebnisse wurden über den Anwalt mitgeteilt.
Nur noch weg aus Samos!
Nachdem die Leiche seines Sohnes geborgen worden war, wurde Naser stundenlang von der Polizei vernommen. Krank vor Sorge habe er immer wieder nach Rafi gefragt, erzählt er. Die Beamten hätten ihm zugesichert, es ginge ihm gut und er könne nach der Vernehmung zu ihm. Im Anschluss hätten sie ihm dann schließlich die Wahrheit gesagt: dass sein Kind tot war.
Nasers Anwalt gelang es, ihn aus der Haft zu holen. So konnte Naser an der Beerdigung seines Sohns teilnehmen. Während das Strafverfahren gegen ihn läuft, darf Naser Samos nicht verlassen. Sein Anwalt ist aber sicher, dass er mit einer geringen Bewährungsstrafe davonkommt oder die Klage ganz fallen gelassen wird. Zu viel Lärm sei um die Sache gemacht worden.
Aber Naser sei schwer gezeichnet von den Ereignissen der vergangenen Monate, erzählt Choulis. Und er habe viele Fragen. Vor allem, warum man seinem Sohn und ihm in der fraglichen Nacht nicht geholfen habe: "Wenn ihnen mein Leben nichts wert ist, weil ich illegal hergekommen bin, dann hätte man mich auch einfach wieder abschieben können", sagt Naser.
Doch dazu wird es erst einmal nicht kommen: Nasers Asylverfahren ist fast abgeschlossen, er wird subsidiären Schutz erhalten und wartet noch auf seine Papiere. Er will weg aus Samos, weg von den schrecklichen Erinnerungen. Irgendwohin, wo er in Frieden und in Ruhe leben und arbeiten kann.
* Namen geändert