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"Schwulenparagraf" in Deutschland vor 30 Jahren abgeschafft

10. Juni 2024

Am 11. Juni 1994 endete die gesetzliche Verfolgung von homosexuellen Männern in Deutschland, die mehr als 120 Jahre lang bestand. Noch heute leiden die Opfer.

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Ein Mann hakt sich bei einem anderen ein, beide tragen Anzug
Bild: Lev Dolgachov/Zoonar/picture alliance

Patrick Dörr ist gerade einmal zehn Jahre alt, als in Deutschland etwas wahrhaft Historisches passiert. 1994 beschließt der Bundestag die endgültige Streichung des Paragrafen 175, der Sex unter Männern unter Strafen stellte. Viel zu spät, sagt Dörr, der zum Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland gehört, im Rückblick. Doch vor 30 Jahren tickten die Uhren in Deutschland gesellschaftspolitisch noch anders, erinnert er sich gegenüber der DW.

"1994 war Deutschland noch ein Land, wo nicht viel über diese Themen geredet wurde. In der Schule war es bei mir kein Thema, ich kannte keine anderen queeren Personen. Auch in den Medien gab es kaum Vorbilder. Das hat sich schon deutlich geändert und ist eine gute Sache."

Bundesrepublik Deutschland hält an Gesetzgebung der Nazis fest

Die Geschichte des sogenannten "Schwulenparagrafen" geht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 war dieses Gesetz eingeführt worden, um "widernatürliche Unzucht" zwischen Männern mit bis zu sechs Monaten Gefängnis zu bestrafen.

Die Nationalsozialisten verschärften die Verfolgung - schon ein Kuss oder ein begehrlicher Blick reichte aus, um als Schwuler im Gefängnis zu landen. Bei Fällen "schwerer Unzucht" drohte sogar Zuchthaus mit bis zu zehn Jahren Haft. Um die 100.000 Homosexuelle wurden im Dritten Reich verschleppt, gefoltert und ermordet.

Ein Mann legt einem anderen den Arm über die Schulter
Mahnmal für von Nazis verfolgte Homosexuelle im Tiergarten in BerlinBild: Trappe/Caro/picture alliance

Die Bundesrepublik hielt an der NS-Fassung des Gesetzestextes weitgehend unverändert fest, während die DDR zur alten Fassung zurückkehrte. Mit großem Eifer und mit Hilfe der "Rosa Listen" der Nazis wurden in Westdeutschland rund 100.000 Verfahren gegen Homosexuelle eingeleitet, die Hälfte von ihnen rechtskräftig verurteilt und exzessive Freiheitsstrafen ausgesprochen.

Der vermeintlich so rückständige Osten setzte vor der Wiedervereinigung durch, dass das bundesrepublikanische Recht ausgerechnet beim Paragrafen 175 und beim Schwangerschaftsabbruch nicht zu gesamtdeutschem Recht wurde. Viele Experten sind sich sicher: Ohne die Wiedervereinigung hätte die Abschaffung des Paragrafen 175 noch länger auf sich warten lassen.

Lebenspartnerschaftsgesetz, Ehe für alle, Selbstbestimmungsgesetz

123 lange Jahre lang wurde also auch gesetzlich Homosexuellen in Deutschland das Leben zur Hölle gemacht. Umso erstaunlicher, wie viel sich von 1994 bis heute in Bezug auf die Rechte von queeren Menschen getan hat. Patrick Dörr sagt: "Es wurde zuerst unter der rot-grünen Regierung 2001 das Lebenspartnerschaftsgesetz eingeführt, dann unter Angela Merkel 2017 tatsächlich die Ehe für alle. Seit 2018 gibt es ein drittes Geschlecht im Personenstandsregister. Und vor kurzem wurde auch das Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet, welches auch trans- und intergeschlechtlichen Personen Selbstbestimmung ermöglicht."

Drei Männer im Anzug schauen auf ein Blatt Papier
Bodo Mende und Karl Kreile sind das erste gleichgeschlechtliche Paar in Deutschland, das 2017 heiratetBild: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/ZB/picture alliance

Doch der Paragraf 175 bleibt ein Schandfleck der deutschen Geschichte. Immerhin können Betroffene, die strafrechtlich verurteilt worden waren, die im Gefängnis saßen oder freigesprochen wurden ebenso bis 2027 eine Entschädigung beantragen wie die Menschen, die nachweislich berufliche, wirtschaftliche oder gesundheitliche Nachteile erlitten. Eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums bestätigt gegenüber der DW, dass bis zum 1. Mai 2024 insgesamt 353 Personen einen Antrag gestellt haben. Und 262 Anträge auf Entschädigung bewilligt wurden.

"Es hätten mehr sein müssen, auf jeden Fall, wir hatten mit 5000 Personen gerechnet", sagt Georg Härpfer der DW, "aber die meisten, die Mitte der 1950er bis Mitte der 1960 er verurteilt worden sind, waren schon tot. Andere haben gesagt, ich habe keine Lust mehr, mich dem zu stellen, ich habe damit abgeschlossen. Und wieder andere: 6000 Euro als höchste Entschädigungsleistung für ein verpfuschtes Leben sei ihnen viel zu wenig."

LGBTQI in Deutschland

Härpfer ist wahrscheinlich derjenige, der sich in Deutschland am meisten für die Paragraf-175-Opfer eingesetzt hat. Als früherer Vorstand der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren hat er jahrelang Deutschland von Nord nach Süd und von West nach Ost befahren, um Betroffene über ihre Rechte aufzuklären. Er hat sogar eine kostenlose Hotline installieren und auch sonst nichts unversucht gelassen, um die Menschen zu erreichen: Selbst in der Bäckerblume und Apotheken-Rundschau, Zeitschriften, die in Bäckereien und Apotheken auslagen, hat Härpfer inseriert.

"Auch ein 99-Jähriger hat dann noch einen Antrag gestellt, der aber abgelehnt wurde. Man darf ja nicht vergessen, die Menschen sind nicht nur kriminalisiert worden, weil sie zwei Jahre im Gefängnis saßen: Sie wurden auch sozial geächtet, weil sie vorbestraft waren. Sie haben entweder keine Arbeit mehr bekommen oder wurden entlassen, wenn sie im öffentlichen Dienst waren."

Anfeindungen gegen queere Menschen nehmen wieder zu

Und wie steht es heute, 2024 und damit 30 Jahre nach Abschaffung des Paragrafen 175, um das Leben von queeren Menschen in Deutschland? Zwar spricht sich laut der internationalen Studie, die das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Ipsos Anfang Juni diesen Jahres veröffentlichte, mit fast drei Viertel eine klare Mehrheit der Deutschen gegen die Diskriminierung der queeren Community und für gleiche Rechte aus. Doch bei jungen Männern nehmen queerfeindliche Ansichten zu.

"Bei der gesellschaftlichen Stimmung, die sich eigentlich in den letzten Jahrzehnten konstant gebessert hatte, merken wir, dass diese zumindest gestoppt ist. Wirklich besorgniserregend ist, dass die Generation Z gespalten ist. Bei Frauen nehmen die Zustimmungswerte zu queeren Lebensweisen noch zu, bei jungen Männern allerdings nehmen sie wieder ab. Und das muss einem natürlich bedenklich stimmen", sagt Patrick Dörr, Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland. 

Mann mit Bart und schwarzem Pullover schaut in die Kamera
"Deutschland hat die Verpflichtung, queere Menschen, die verfolgt werden, weltweit zu schützen" - Patrick DörrBild: Caro Kadatz/LSVD

Zu dieser Entwicklung passt auch, dass 2023 rund 1500 Delikte gegen die sexuelle Orientierung polizeilich erfasst wurden. Seit zehn Jahren steigen diese Attacken kontinuierlich an. Auch Dörr beobachtet immer mehr Angriffe auf Veranstaltungen wie den Christopher Street Day und Anfeindungen auf der Straße. Nicht nur deswegen fordert er, drei Jahrzehnte nach Ende des Paragrafen 175, einen Zusatz für den Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes zur Gleichbehandlung aller Menschen.

"Homosexuelle oder queere Personen werden nicht erwähnt. Von daher ist es das absolut Wichtigste, dass endlich dieser Artikel 3 im Grundgesetz ergänzt wird. Und klar gemacht wird, dass keine Menschen Diskriminierung erfahren dürfen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur