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Schwere Vorwürfe: Turnen mit Knochenbrüchen

30. Dezember 2024

Immer mehr Ex-Turnerinnen erheben schwere Vorwürfe gegen den Dachverband DTB. Von Missbrauch und katastrophalen Umständen ist die Rede. Ein Bundesstützpunkt steht im Mittelpunkt. Der Verband bestätigt konkrete Hinweise.

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Turnerin Tabea Alt im Porträt
Tabea Alt prangert massive Missstände im deutschen Turnsport anBild: Hansjürgen Britsch/picture alliance

Der Deutsche Turner-Bund (DTB) wird erneut von Vorwürfen des Missbrauchs an einem seiner Bundesstützpunkte erschüttert. Die frühere Top-Turnerin Tabea Alt hat in einem Instagram-Post Missstände öffentlich gemacht und diese als "systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch " bezeichnet. Michelle Timm, ebenfalls früheres Mitglied der DTB-Frauenriege, reagierte einen Tag nach Alts Aussagen und berichtete ebenfalls auf Instagram von "katastrophalen Umständen" am Kunstturnforum Stuttgart.

Der DTB bestätigte, ihm und dem Schwäbischen Turner-Bund (STB) lägen "konkrete Informationen zu möglichem Fehlverhalten von Seiten verantwortlicher Trainer am Bundesstützpunkt in Stuttgart vor", schrieb der Verband in einer Stellungnahme auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Zugleich kündigte er Aufklärung an. Man werde eine Untersuchung einleiten und dafür auch externe Unterstützung hinzuziehen.

Kurzfristige Maßnahmen durch den DTB

"Gegenstand der Untersuchung wird mögliches Fehlverhalten von Trainerinnen und Trainern aber auch Fehler im Leistungssportsystem an Bundesstützpunkten sowie der Umgang mit möglichen Hinweisen innerhalb der Verbandsstrukturen des STB und DTB sein ", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Und weiter: "Bis zur Klärung der Sachlage und zum Schutze aller werden kurzfristige, das Training betreffende Maßnahmen am Stuttgarter Kunstturnforum initiiert."

Turnsport in der Kritik

Damit rückt das deutsche Frauen-Turnen schon wieder negativ in den Fokus. Ende 2020 hatten Sportlerinnen des Bundesstützpunktes Chemnitz mit der ehemaligen Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz an der Spitze ihrer damaligen Trainerin Gabriele Frehse schwere Vorwürfe gemacht. Sie soll die Turnerinnen im Training schikaniert, Medikamente ohne ärztliche Verordnung verabreicht und keinen Widerspruch zugelassen haben.

Frehse hatte die Vorwürfe stets bestritten. Dennoch lehnte der DTB eine weitere Zusammenarbeit mit ihr ab. Nach einem gewonnenen Rechtsstreit um ihre Kündigung durch den Olympiastützpunkt Sachsen ist Frehse inzwischen Auswahltrainerin der Frauen in Österreich. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Chemnitz alle Ermittlungen eingestellt.

Alt: Brief führte zu nichts

Nun richtet die ehemalige WM-Dritte Tabea Alt den Blick auf den Bundesstützpunkt Stuttgart. Sie habe mit gebrochenen Knochen turnen müssen, schrieb die heute 24-Jährige. "Es ist kein Einzelfall: Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung", berichtete die Olympia-Sechste mit der Mannschaft von 2016 in Rio de Janeiro mehr als drei Jahre nach ihrem Karriereende.

Alt hatte ihre Stellungnahme mit dem Satz begonnen: "Du bist nicht das, was Dir angetan wurde!" Lange Zeit habe sie gezögert, sich öffentlich über die Missstände in Stuttgart, aber auch im deutschen Frauen-Turnen generell zu äußern. "Der Gedanke, solche Themen besser intern anzusprechen, schien mir sicherer, da die Öffentlichkeit oft zu wenig Hintergrundwissen hat, um fair zu urteilen oder richtige Schlüsse zu ziehen."

Screenshot von Tabea Alts Post bei Instagram
Tabea Alt bei Instagram über die Missstände im deutschen FrauenturnenBild: Instagram/swrsport

In ihrem Statement erklärte sie nun, vor drei Jahren einen ausführlichen Brief an ihre Heimtrainer, die damalige Bundestrainerin Ulla Koch, den DTB-Präsidenten Alfons Hölzl, den Teamarzt und an weitere Verantwortliche geschrieben zu haben. "Darin habe ich die Missstände hier in Stuttgart und im deutschen Frauenturnen im Allgemeinen an meinem Beispiel klar benannt und bekannt gemacht." Mit Bedauern habe sie feststellen müssen, dass dies erfolglos gewesen sei und zu nichts geführt habe. Der DTB bestätigte auf dpa-Anfrage, dass der genannte Brief vorliegt. Er wurde vertraulich behandelt.

Timm: "Diese jahrelangen Missstände machen Menschen kaputt"

Die ehemalige Turnerin Timm legte in ihrem Post bei Instagram nach. Sie habe sich vor mehr als zwei Monaten an den DTB gewandt. "Ich denke, dass es mittlerweile bekannt ist, dass es mit dem Trainerteam im weiblichen Bereich massivste Probleme gibt", schrieb die 27-Jährige. "Niemand, der das Erzählte nicht selbst erlebt hat, kann nachvollziehen, was all das mit einem macht. Diese jahrelangen Missstände machen Menschen kaputt. Diese emotionale Abhängigkeit ist für außenstehende kaum zu beschreiben und ich kann gar nicht zum Ausdruck bringen, was Kinder wie ich durchlebt haben", schrieb sie zu einem Brief, den sie mit veröffentlichte.

Kunstturnerin Michelle Timm bei Wettkampf in Stuttgart im Jahr 2018
Auch Kunstturnerin Michelle Timm hatte sich an den DTB gewendetBild: Marijan Murat/dpa/picture alliance

Zuletzt hatte überdies in Emilie Petz bereits eine weitere frühere Top-Turnerin öffentlich gemacht, dass sie viele Jahre lang an Essstörungen und Selbstzweifeln gelitten hat. "Ich kämpfe seit Jahren gegen eine Essstörung", schrieb die 21-Jährige. Wegen der Folgen einer Achillessehnenverletzung musste sie ihre Karriere im Dezember 2023 beenden. "Meine Verletzung hat mir gezeigt, dass sich einige Leute nur für mich interessieren, wenn ich erfolgreich bin", schrieb sie nun.

Bui ermutigt Turnerinnen zur Offenheit

Im Lichte der aktuellen Vorwürfe ermutigte Kim Bui weitere Turnerinnen zur Offenheit: "An alle, die sich jetzt öffnen: Ihr seid nicht allein. Wir stehen zusammen - mit jeder Stimme und jeder Erfahrung. Und wir tun es für uns, für alle, die vor uns kamen, und für die, die nach uns kommen werden", schrieb die 35-Jährige bei Instagram. Zusammen könne man den Turnsport zu einem Ort machen, an dem Respekt, Wertschätzung und Menschlichkeit an erster Stelle stehen würden.

Kim Bui hatte ihre Karriere nach Platz drei mit der Mannschaft bei den Heim-Europameisterschaften 2022 beendet. In ihrem anschließend veröffentlichten Buch "45 Sekunden" thematisierte sie ihre Essstörungen. Im vergangenen Sommer war die Stuttgarterin bei den Olympischen Spielen in Paris in die Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) gewählt worden.

Die ehemalige Kunstturnerin Kim Bui im Porträt in einer Sporthalle
Kim Bui, ehemalige Kunstturnerin und Mitglied der IOC-Athletenkommission: "Ihr seid nicht allein."Bild: Frank Hammerschmidt/dpa/picture alliance

"Ich bin tief bewegt und voller Respekt für den Mut von meinen ehemaligen Wegbegleiterinnen. Es erfordert unglaubliche Stärke, sich so offen mit der eigenen Geschichte an die Öffentlichkeit zu wenden - besonders, wenn man weiß, wie viel Schmerz und Zweifel damit verbunden sind", schrieb Kim Bui nun. Echte Veränderung brauche Zeit und vor allem Mut, um alte Muster zu durchbrechen, immer wieder laut zu sein und sich gegenseitig zu unterstützen. "Genau das tun wir jetzt, und das macht mich stolz", erklärte die frühere deutsche Mehrkampf-Meisterin.

ck/ack (dpa, SID)