Schweizer verstehen nur Bahnhof
23. März 2004Spätestens im Jahr 2015 soll der Gotthard-Basistunnel vollendet sein. Mit 57 Kilometern wäre das Bauwerk dann der längste Eisenbahntunnel der Welt. Zum Vergleich: Selbst der Eurotunnel zwischen Frankreich und England bringt es lediglich auf etwa 50 Kilometer.
Städte wie Zürich oder Mailand profitieren vom neuen Bauprojekt, denn die Reisezeit soll sich nach Angaben der Projektbeteiligten drastisch reduzieren. Züge können später in zwei getrennten Röhren mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde fahren. Zahlreiche Sicherheitsmaßnahmen sollen dafür sorgen, dass sich auch ängstliche Menschen für lange Zeit in das Gotthard-Massiv trauen, bevor sie wieder ans Tageslicht kommen.
Querschläge und Multifunktionsstellen
So gibt es im Abstand von 325 Metern so genannte Querschläge zwischen den Röhren, die bei einem eventuellen Hindernis auf der Strecke vom Rettungspersonal als Umweg genutzt werden können. Zwei "Multifunktionsstellen" sollen außerdem sicherstellen, dass Züge im Notfall anhalten und die Fahrgäste den Zug verlassen können.
Die Bürger im Kanton Graubünden geben sich jedoch nicht mit einer Nothaltestelle zufrieden. Im Wintersportgebiet Sedrun hat man weitaus Größeres vor, immerhin liegt eine der Multifunktionsstellen direkt unter ihren Füßen. "In 800 Metern Tiefe ist Platz für einen richtigen Bahnhof", dachten sich einige Bürger und gründeten den Verein Visiun Porta Alpina.
Ziel der Interessengemeinschaft ist es, den Bahnhof auf politischer Ebene durchzusetzen und dadurch noch mehr Touristen in die strukturschwache Region zu locken. Sollten die Graubündner Wirtschaftsförderer mit ihrer Zielsetzung erfolgreich sein, hätte die Schweiz nicht nur den längsten Bahntunnel der Welt, sondern auch den größten Personenlift.
Reisende müssten nach einer schnellen Zugfahrt eine ungewöhnlich lange Fahrt durch den jetzt schon vorhandenen Schacht in Kauf nehmen. Die Initiatoren der Idee sehen im tiefen Schacht eine zusätzliche Attraktion, die etliche Touristen nach Sedrun bringen könnte.
Boom-Bahnhof
Der Kanton Graubünden hat unlängst eine Studie in Auftrag
gegeben, welche die Argumente der Bürgerinitiative stützt. Demnach würden die Baukosten für den unterirdischen Bahnhof rund 40 Millionen Franken betragen. Pro Jahr müssten 2,5 Millionen Franken für den Unterhalt aufgebracht werden.
Diesen Zahlen stünden Steuermehreinnahmen von jährlich 3,8 Millionen Franken gegenüber. Mindestens 60.000 zusätzliche Touristen würden aus dem Norden in die Region strömen, so ein weiteres Ergebnis der Untersuchung.
Nun ist die Politik gefragt. Sie entscheidet über die Zukunft des Bahnhofs Sedrun. Doch selbst bei gutem Willen bleibt den Volksvertretern inzwischen wenig Spielraum, denn die Finanzierung des Gesamtprojektes Basistunnel ist alles andere als einfach. Reserven sind längst aufgebraucht und weitere Zusatzkosten angekündigt.
Die Chancen auf Erfolg sinken für die Graubündner von Tag zu Tag. Dauert die Entscheidung länger als bis Ende 2005, wäre ein Ausbau des Nothaltes zu einem Bahnhof nur noch mit erhöhtem Mehraufwand möglich oder finanziell mitunter nicht mehr tragbar.
Für die Sedruner wäre dies eine große Niederlage, wenn 800 Meter unter der Erde Touristenströme vorbeirauschen und die Bürger dabei als regionaler Verlierer lediglich in die Röhre schauen dürfen.