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Schulen in Deutschland - das mobbende Klassenzimmer

30. April 2024

Kaputte Schulen, steigende Gewalt unter Schülern und immer mehr Lehrer kurz vorm Burn-Out. Wie krank ist das deutsche Bildungssystem?

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Zwei Jugendliche streiten handgreiflich, zwei andere versuchen zu schlichten
Die Gewalt an deutschen Schulen nimmt laut Schulbarometer zuBild: imagebroker/IMAGO

An manchen Tagen ist die Welt für die deutsche Bildungsministerin noch in Ordnung. Zum Beispiel dann, wenn wie jedes Jahr die besten Lehrer ausgezeichnet werden. Und Bettina Stark-Watzinger die besondere Ehre hat, auf die Sieger des Deutschen Lehrkräftepreises eine Laudatio halten zu dürfen. Der Mathelehrer beispielsweise, der laut seinen Schülern auch die unerträglichste Stunde noch spannend macht. Oder die Sonderpädagogin, die Schüler mit Rollstuhl in ihr Theaterprojekt engagiert. Oder der Lehrer, der selbst erstellte Videos in seinen Unterricht einbaut.

Alles wunderbar also im Land der Dichter der Denker? Es geht so.

Denn in den vergangenen Wochen und Monaten machte eine Studie nach der anderen deutlich, dass das deutsche Bildungssystem dringend Nachhilfe benötigt. Da war zunächst die PISA-Studie im Dezember, bei der deutsche Schülerinnen und Schüler in Mathematik und beim Lesen so schlecht wie noch nie abschnitten.

In der Jugendstudie 2024 kritisierten junge Menschen ein eklatantes Digitalisierungsdefizit in der Schule und dass diese sie nicht auf die Arbeitswelt und das wirkliche Leben vorbereite. Zudem berichtete im sogenannten Schulbarometer mit 47 Prozent fast jede zweite Lehrkraft, schon einmal psychische oder physische Gewalt unter Schülern gesehen zu haben.

"Wir sehen in den Ergebnissen die Momentaufnahme eines kranken Systems", erklärt Dagmar Wolf. Die ehemalige Lehrerin leitet den Bereich Bildung der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, die für das Schulbarometer mehr als 1.600 Lehrer online befragte. Weiter sagt sie gegenüber der DW: "Wir sprechen von Bullying, wir sprechen von Vandalismus, aber auch von handfesten, auch körperlichen Auseinandersetzungen, die zum Teil natürlich über den Schulhof hinausgehen. Es wurden uns sogar Situationen berichtet, in denen Eltern involviert waren. Eher eine Ausnahme, aber es ist auch nicht so, dass es das nicht gibt."

Gewalt sogar an Grundschulen

Früher undenkbar wäre auch gewesen, dass die Berliner Bildungssenatorin einen Brief an 800 Schulen schicken muss, um vor einem Gerücht auf Tiktok zu warnen: Dort ging die Falschmeldung um einen "National Rape Day" viral, am 24. April seien sexuelle Übergriffe angeblich erlaubt. Auch geopolitische Krisen und Kriege wirken sich aus: Schulleitungen berichten laut Wolf, dass es aufgrund des Krieges in Gaza und Israel zu mehr Gewalt unter den Schülern gekommen sei.

Wer gedacht hat, dies alles sei lediglich ein Problem der weiterführenden Schulen, sieht sich getäuscht - schon in Grundschulen, also bei Schülern im Alter von sechs bis zehn Jahren, gebe es erste Fälle von Mobbing und Rangeleien. Von der Idee der netten und kuscheligen Grundschule müsse man sich verabschieden.

Ihr Fazit: in Sachen Bildung sei Deutschland ein zweigeteiltes Land. Auf der einen Seite die mehr als 3000 Gymnasien, mit ganz anderen Bedingungen und Herausforderungen als die Schulen, die vor allem von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Schichten besucht würden. Und dann ist da noch die Herkulesaufgabe für alle Schulen in Deutschland: die Aufnahme von Geflüchteten.

Frau mit Kurzhaarfrisur, weißem Hemd und dunkelblauem Sakko lächelt in die Kamera
Dagmar Wolf: "Bei vielen Schülern, gerade in den Schulen in kritischen Lagen, herrscht eine enorme Perspektivlosigkeit vor"Bild: Robert Bosch Stiftung/Foto: Michael Fuchs

"Wir haben in den letzten zwei Jahren mehr als 200.000 Kinder ins Bildungssystem integriert, die aus der Ukraine kamen. Und mindestens in genauso hoher Zahl aus anderen Ländern, in denen entweder die ökonomische Not groß ist oder in denen auch Bürgerkrieg oder kriegsähnliche Zustände herrschen. Und das macht natürlich auch die Situation in der Grundschule deutlich schwerer als noch vor zehn Jahren", sagt Dagmar Wolf von Robert Bosch Stiftung.

Herausforderungen Handykonsum und Corona-Pandemie

Wer eine Ahnung davon bekommen will, wie sich der Alltag und der Umgang an den Schulen in den letzten Jahren geändert hat, muss mit Torsten Müller (Name von der Redaktion geändert) sprechen. Er ist Sozialarbeiter an einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen und hat jeden Tag ein Ohr für die Nöte, Sorgen und Probleme der Schülerinnen und Schüler. Für den Anstieg von Stress, Erschöpfung, Selbstzweifeln und Antriebslosigkeit, den auch die Jugendstudie feststellte, hat er gegenüber der DW folgende Erklärung:

"Entscheidend ist natürlich der Handykonsum, der auch die Kommunikation untereinander verändert hat. Die Jugendlichen sprechen mehr übereinander als miteinander, und es entstehen Missverständnisse, die man vis-a-vis nicht gehabt hat. Und dann sind wir immer noch dabei, die Nachwirkungen der Corona-Pandemie aufzuarbeiten, mit einem Verlust der Sicherheit und einem signifikanten Anstieg von psychiatrischen Erkrankungen."

Die monatelange Schließung der Schulen gilt als der größte Fehler der deutschen Corona-Politik: während in Frankreich die Schulen nur an 56 Tagen, in Spanien an 45 und in Schweden an 31 Tagen geschlossen waren, mussten die Schüler und Schülerinnen hierzulande mehr als 180 Tage zu Hause bleiben. Müller beobachtet, dass die Zündschnur heute bei vielen Jugendlichen deutlich kürzer ist. Dass schon mal eher geboxt oder geschubst wird, anstatt Argumente auszutauschen. Mit Deeskalationstrainings versucht die Schule gegenzusteuern, der Sozialarbeiter und sein Team leiten die dreitägigen Trainings.

"Wir vermitteln Kenntnisse, wie es überhaupt zum Streit kommt und was ich als Gruppe oder Einzelner tun kann, um gar nicht erst in diese Situation zu kommen. Wie funktioniert Mobbing, das jeder zweite oder dritte Schüler schon am eigenen Leib erfahren hat. Anschließend entwickeln wir in Übungen eine gemeinsame Strategie, um dagegen vorzugehen."

Mehr Personal in der Schulpsychologie gefordert

Kleinere Klassen bei gleichbleibender Anzahl der Lehrerstellen, ein gutes Helfersystem und der Ausbau von Sozialarbeit und Schulpsychologie lautet das Rezept von Müller, um Deutschlands Schulen wieder in die Spur zu bekommen. Stefan Düll würde dies wahrscheinlich direkt so unterschreiben, doch seine Liste ist noch weitaus länger. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes sagt gegenüber der DW:

"Wir brauchen jede Menge Menschen, die Deutsch als Zweitsprache, als Fremdsprache unterrichten können. Wir brauchen unterstützendes Personal im Bereich Schulpsychologie, Schulassistenz, Jugendarbeit. Aber wir finden die Menschen nicht mehr so leicht, weil die demografische Entwicklung gegen den Bedarf läuft. Der wird immer größer, die gesuchten Fachkräfte immer weniger. So funktioniert das Ganze nicht mehr."

Mann mit blauem Jackett, weißem Hemd und roter Krawatte und Brille schaut lächelnd in die Kamera
"Ein Lehrer braucht eine hohe Resilienz, muss mit Stress umgehen können und ihn als positiv empfinden" - Stefan DüllBild: Andreas Gebert/bpv

Und so steigt der Frust auch bei den Lehrerinnen und Lehrern, die immer häufiger Konflikte schlichten müssen, statt zu unterrichten. Die Ergebnisse des Schulbarometers sprechen Bände: Jeder dritte Lehrer fühlt sich laut der Umfrage an mehreren Tagen emotional erschöpft. Mit 27 Prozent würde mehr als ein Viertel der Befragten den Schuldienst verlassen - obwohl die große Mehrheit der Lehrkräfte immer noch mit ihrem Beruf zufrieden ist. Und als größte Herausforderung gilt mittlerweile das Verhalten der Schülerinnen und Schüler.

Deswegen müsse auch mehr Personal zur Gewaltprävention her, fordert der Leiter eines Gymnasiums in Bayern. Würden gewisse Grenzen überschritten, helfe aber nur eine Null-Toleranz-Politik: "Ab einem gewissen Punkt ist einfach Schluss und wir sind im Bereich des Strafrechts mit einer Anzeige bei der Polizei, um auch ein bisschen abzuschrecken. Dies gilt übrigens auch für Mobbing-Fälle. Auch beim Cyber-Mobbing geben viele Schulleiter die Fälle bei der Polizei ab."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur