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Das Rätsel um die Schamanin von Bad Dürrenberg

Christine Lehnen
19. Dezember 2022

Die Nazis hielten ihr Skelett für einen weißen, blonden Mann. Nun stellt sich heraus: Die 9000-Jahre alten Überreste aus Bad Dürrenberg gehörten einer mächtigen Frau.

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Eine Frau, die Feder-, Zahn- und Tierfellschmuck trägt
So könnte sie ausgehen haben: eine künstlerische Darstellung Karol Schauers von der Schamanin von Bad DürrenbergBild: Karol Schauer/Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt

100 Jahre lang gab ein Skelett der Archäologie Rätsel auf: Bei seiner Entdeckung in Ostdeutschland im Jahr 1934 hielt man es für die sterblichen Überreste eines mächtigen Mannes. Die Nazis, die bereits an der Macht waren, glaubten sogar, in den 9000 Jahre alten Überresten einen ihrer mächtigen "arischen" Vorfahren entdeckt zu haben, einen weißhäutigen, blauäugigen, blonden Mann. 

Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass sie sich gründlich getäuscht haben. Das bestattete Skelett gehört nicht zu einem weißen Mann, sondern zum genauen Gegenteil eines "Ariers", wie die Nazis ihn sich vorstellten: zu einer dunkelhäutigen, mächtigen Frau, begraben mit einem Kind, eine Schamanin aus der mittleren Steinzeit, die ungefähr von 9500 bis 4500 v. Chr. dauerte.

Wer war die Schamanin von Bad Dürrenberg?

"Selten hat man sich in einer Person so sehr getäuscht wie in dieser Frau", schreiben Harald Meller und Kai Michel in ihrem Buch "Die Schamanin von Bad Dürrenberg: Eine Reise in unsere Vergangenheit", das in diesem Jahr erschienen ist. Darin legen sie dar, wie sie dem Skelett seine Geheimnisse entlockt haben, mit Genanalyse, Kernspintomographie und modernsten Zahnuntersuchungen.

Buchcover von "Das Rätsel der Schamanin" von Harald Meller und Kai Michel.
Der Historiker Kai Michel und der Archäologe Harald Meller beschäftigen sich in ihrem Buch mit den Überresten der "Schamanin"

Nicht nur Geschlecht und Hautfarbe des Skeletts trieben die Archäologie um, sondern auch ihre Position in der Gesellschaft: War diese Frau eine mächtige Schamanin? Wenn ja, warum übte ausgerechnet sie diese Tätigkeit aus? Und wer ist das Kind, das neben ihr begraben wurde?

Was ist der Schamanismus?

Schamaninnen und Schamanen sind "Grenzgänger zum Geisterreich, zu dem sie mittels Trance Zugang finden", schreiben Michel und Meller. Sie vermitteln zwischen der Geisterwelt und der lebendigen Welt und nutzten dazu zum Beispiel Trommeln oder andere Instrumente, Tanz und Mittel, die eine Trance induzieren.

Manche Forschenden sind der Ansicht, Schamanismus existiere lediglich in bestimmten Kulturen Sibiriens, andere betrachten es als weitverbreitetes Phänomen der Geschichte und den Schamanismus "als erste Religion der Menschheit".

Eine wichtige Frau

Als Schamanin wurde die Frau in Bad Dürrenberg wegen ihrer Grabbeigaben eingeordnet: Sie trug beim Begräbnis ein Rehgeweih auf dem Kopf, vielleicht sogar einen ganzen Rehkopf. Die Panzer dreier Sumpfschildkröten, die in ihrem Grab lagen, könnten als Rasseln gedient haben, die bei schamanischen Ritualen verwendet wurden. Außerdem wurden ihr zahlreiche durchbohrte Tierzähne mitgegeben.

Eine Untersuchung des Halswirbels der Frau ergab, dass die Blutzufuhr zu ihrem Hirnstamm eingeschränkt war, was vermutlich zu einem sogenannten Downbeat-Nystagmus führte. Wenn sie den Kopf senkte, traten unkontrollierte Augenbewegungen auf, rasten die Augäpfel von oben nach unten.

Kai Michel und Harald Meller stehen vor zwei bunten Wänden und einer Treppe
Ein Autorenduo: Kai Michel (l.) ist der Autor vieler Sachbuchbestseller, Harald Meller lehrt Archäologie an der Universität in Halle.Bild: Max Zerrahn

... begraben mit einem fremden Kind

Es war für sie nicht gefährlich, eine Veränderung der Kopfposition normalisierte die Augenbewegung wieder. Es könne aber so ausgesehen haben, als sei sie in Trance oder von tierischen Geistern "besessen" gewesen, schreiben Meller und Michel. In ihrer Gemeinschaft wurde sie zu einer geschätzten Persönlichkeit, sogar zu einem mächtigen Menschen. Der Verdacht, dass sie eine Schamanin gewesen sein könnte, wird durch diesen Befund erhärtet.

Auch über das Kind, mit dem sie bestattet wurde, gewannen die Forschenden neue Erkenntnisse: Bei der kompletten Sequenzierung des Erbguts der Frau und einer Teilentschlüsselung des Genoms des Kindes stellte sich heraus, dass es sich nicht um Mutter und Kind handelt. Das begrabene Kind ist ein Junge, aber nicht ihr Sohn. Verwandt, aber nicht direkt. Die Schamanin wurde mit einem Kind bestattet, das nicht ihr eigenes war. Das Kind würde noch weiteren Untersuchungen unterzogen, schreiben Meller und Michel, um Hinweise darauf zu finden, wie und warum es im Grab der Schamanin seine letzte Ruhe fand.

Wie lebten Menschen früher?

Michel und Meller zeichnen in ihrem Buch das Bild einer Frau, die mächtig und bedeutsam war, die in einer Gemeinschaft lebte und als Orakel, weise Frau oder politische Anführerin fungierte. Die mit einem Kind bestattet wurde, das nicht das ihre ist, und die trotz oder wegen eines ungewöhnlichen körperlichen Phänomens geschätzt wurde.

Sie weisen in ihrem Buch darauf hin, dass die Untersuchungen der Schamanin ergeben, dass ein weitverbreitetes Geschichtsbild veraltet ist, demzufolge Frauen Männern unterlegen waren, keine prächtigen Begräbnisse erhielten oder wichtige Positionen bekleideten und sich vor allen Dingen um ihre eigenen Kinder kümmerten. Menschen, die körperlich anders waren als der Durchschnitt, wurden auch nicht verstoßen und Körper, die in Ostdeutschland gefunden werden, müssen auch keine weiße Hautfarbe haben.

Vor 9000 Jahren könnte es zudem normal gewesen sein, dass eine weibliche Person mit nicht-weißer Hautfarbe, die sich körperlich vom Durchschnitt ihrer Gemeinschaft unterschied, zu einer mächtigen spirituellen oder politischen Anführerin werden konnte. 

Ein Albtraum der Nazis

Eine Frau mit blauen Augen schaut den Betrachtenden an
Ein mögliches Portrait der Schamanin von Karol SchauerBild: Karol Schauer/Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt

Das war den Nationalsozialisten nicht genehm. Sie waren auf der Suche nach einem Beweis dafür, dass die Arier schon immer in Deutschland gelebt haben, dass sie sogar aus Deutschland stammen, um ihr "tausendjähriges Reich" und ihre Rassenlehre zu stützen.

Ihnen fehlten nicht die modernen archäologischen Methoden, wie Michel und Meller aufzeigen, sondern die Fähigkeit, das Grab ohne Vorurteile zu betrachten. Der bestattete Junge wurde zum Beispiel in den ersten zwei Untersuchungen gar nicht oder nur am Rande erwähnt. Dass es sich um eine Frau handeln könnte, wurde gar nicht erst in Betracht gezogen. Das wurde erst 1957 vorgeschlagen, das Alter des Skeletts erst in den 1970er-Jahren zum ersten Mal bestimmt. 

So entpuppte sich über die Jahre der "Traumfund der Nazis", wie Harald Meller und Kai Michel in ihrem Buch schreiben, als "Albtraum aller Nazis".

Die Schamanin ist nicht die einzige: In diesem Jahr stellte sich heraus, dass der "Mann von Neuessing", 34.000 Jahre alt, ebenfalls keine weiße Hautfarbe hatte. Der als "ältester Bayer" bekannte Mensch lebte in der Eiszeit im heutigen Süddeutschland - und war schwarz. So hat die Archäologie, in den Worten Kai Michels und Harald Mellers, "das Potenzial, unsere Gewissheiten auf den Kopf zu stellen."