Schach-WM: Kann Ding den Siegeszug von Gukesh noch stoppen?
22. November 2024Sportlich ist es eine schwierige Ausgangslage für den Titelverteidiger: Wenn Ding Liren in den kommenden drei Wochen in Singapur um die Krone im Schachsport ringt, dann sitzt der sympathische Chinese nicht - wie die meisten seiner Vorgänger - als Platzhirsch am Brett. Er ist vielmehr nur der Außenseiter.
"Ich war etwas ängstlich und neigte dazu, übermäßig viel nachzudenken", schildert Ding der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua seine Formkrise, mit der er erstaunlich offen umgeht. Denn nachdem er Anfang 2023 den WM-Titel in einem knappen und nervenaufreibenden Match gewonnen hatte, ist bei Ding nicht mehr viel zusammengelaufen.
"Ich glaube weiterhin daran, dass ich diesen Trend wenden kann, vielleicht sogar in der Weltmeisterschaft selbst", teilt Ding, der von einem Psychologen unterstützt wird, tapfer mit. Doch der Blick auf die Weltrangliste ist ernüchternd: Der Weltmeister rangiert aktuell nur noch auf Platz 23.
Dommaraju Gukesh: selbstbewusster Rechenkünstler
Ganz anders sein Gegner: Dommaraju Gukesh ist zwar erst 18 Jahre alt, aber er hat in diesem Jahr fast alles gewonnen, was zu gewinnen war: erster Platz im Frühjahr beim WM-Kandidatenturnier, dann der Sieg mit der indischen inzwischen Nationalmannschaft bei der Schach-Olympiade. Inzwischen liegt er auf Platz fünf der Weltrangliste.
Gukesh ist scheinbar nicht zu stoppen. Sollte der selbstbewusste Rechenkünstler tatsächlich Mitte Dezember in Singapur nach dem dreiwöchigen Duell über 14 Partien vorne liegen, wäre er der jüngste Schach-Weltmeister aller Zeiten. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg.
"Ding kennt die Situation schon, Gukesh noch nicht. Das kann für Gukesh zum Problem werden", meint Jan Gustafsson. Er ist deutscher Schach-Bundestrainer und kann als ehemaliger Sekundant von Ex-Weltmeister Magnus Carlsen die Anspannung während einer Weltmeisterschaft gut einschätzen. Ding habe trotz aller Schwierigkeiten auch eine große mentale Stärke, wenn er unter Druck gerate. "Das kann auch eine sehr interessante WM werden", so Gustafsson im Gespräch mit der DW.
Schach-Begeisterung in Indien
In Indien ist der Titelkampf schon seit Wochen ein Topthema für die Sportfans. Die jüngsten Erfolge von Gukesh und seinen ebenfalls sehr jungen Kollegen Rameshbabu Praggnanandhaa und Arjun Erigaisi haben auf dem Subkontinent eine große Schach-Begeisterung ausgelöst. Die indischen Top-Großmeister sind dort inzwischen fast so populär wie Cricket-Stars.
Jetzt hoffen die Schachfans, dass Gukesh in die Fußstapfen von Viswanathan ("Vishy") Anand tritt, der bis 2007 der erste indische Weltmeister war und die Grundlage für den Boom des Schachsports in seinem Land gelegt hat.
Auch wenn diesmal die Medien mehr berichten als vor zwei Jahren: Im Nachbarland China blickt man deutlich nüchterner auf das Denksport-Duell in Singapur. "Mit dem Gewinn der Schachweltmeisterschaft der Männer durch Ding Liren wurde das öffentliche Interesse an Schachturnieren weiter verstärkt", berichtet die Schachfunktionärin Xie Jun der Deutschen Welle. Die Großmeisterin war bis 2001 die erste chinesische Schachweltmeisterin, ein Titel, der seitdem fast immer in chinesischer Hand ist.
Schach: eher ein Randsport in China
Schach ist in China auch eine Sache des Staates: In den vergangenen 30 Jahren ist dort ein umfassendes Fördersystem für Schachspieler - und vor allem für Schachspielerinnen - entstanden. So gibt es zum Beispiel das "Männer helfen Frauen"-Trainingsmodell, bei dem die besten männlichen Spieler ihre weiblichen Teamkolleginnen unterstützen.
Doch trotz aller Erfolge und obwohl inzwischen auch die chinesischen Männer in der Weltspitze mitspielen, bleibt Schach in China weiter eher eine Randsportart. Ein Grund: Schach ist nicht der einzige Denksport, der in China populär ist: "Xiangqi [chinesisches Schach, Anm.d.Red.] und Go verfügen über eine deutlich breitere Basis in der Bevölkerung", erklärt Schach-Großmeisterin Xie Jun, die auch Vizepräsidentin des Weltschachbunds FIDE ist.
Ganz unabhängig vom Ausgang des WM-Kampfs in Singapur steht für sie aber schon jetzt fest: "Das Zentrum des Schachsports verschiebt sich zunehmend in Richtung Asien."
Denn nicht nur in China und Indien boomt das traditionsreiche Brettspiel, das ursprünglich in Indien entstanden ist. Auch in Usbekistan, im Iran und in Kasachstan spielen immer mehr Menschen Schach - und vor allem sehr gut Schach.
Diese Entwicklung lockt auch Sponsoren an. In der Vergangenheit wurden Schach-Weltmeisterschaften vor allem von Unternehmen mit engen Verbindungen nach Russland finanziert. Das könnte sich jetzt ändern. Diesmal ist der Internet-Riese Google zum ersten Mal einer der Geldgeber für das mit 2,5 Millionen US-Dollar dotierte WM-Finale.