Die jüdische Gemeinde Congregacao Israelita Paulista (CIP)
2. Dezember 2012Früher einmal war das ein offenes Haus. Heute versperrt ein hohes Tor den Eingangsbereich: Wer in die jüdische Gemeinde Congregacao Israelita Paulista, die liebevoll CIPI genannt wird, hinein möchte, muss klingen und am Pförtner vorbei. Die üblichen Maßnahmen in Sao Paulo, einer Stadt, in der jedes bessere Haus mit Elektrozäunen und Stacheldraht gesichert ist, in der Kameras Eingangsbereiche observieren und jedes Auto auf dem Weg in die Tiefgarage eine doppelte Sicherheitsschleuse passieren muss, Die Kriminalitätsrate in der Stadt ist hoch, die Angst vor Entführungen riesig.
Mitten im Zentrum
Das CIP versteckt sich in einer kleinen Straße, unweit der lärmumtosten Avenida Paulista, einer vielspurigen Schneise durch die zahllosen Betontürme, die ihre Nasen im weitläufigen Zentrum der Stadt um die Wette in den Himmel strecken.1936, als die Gemeinde ins Leben gerufen wurde, war das hier noch eine beschauliche Gegend. Ohne Hochhäuser, ohne Abgasglocke, mit Kindern, die auf der Straße gespielt haben.
Gegründet wurde die Congregacao Israelita Paulista auf Initiative des deutschen Arztes Dr. Lorch, der seit Ende der zwanziger Jahre mit seiner Frau Luisa in Sao Paulo lebte. Ein hilfsbereiter Mann, wie man bei jenen nachlesen kann, die ihn noch erlebt haben. Einer, der vielen Freunden und Bekannten in Nazi-Deutschland mit entschiedenen Worten zur raschen Ausreise geraten hatte. Und der so wohl manches Leben rettete. Und dann, 1936, das CIP gründete, offen für alle. Aber vor allem Anlaufstelle und erster Hort der Geborgenheit für die Flüchtlinge aus Deutschland, für die Opfer des Holocaust.
Fluchtpunkt Sao Paulo
Nach Sao Paulo sind sie gekommen, weil die Stadt europäische Züge trug, erzählt Heinz Kohn, geboren 1928 in Hamburg. Weil das Klima hier günstiger ist als im heißen Rio. Und weil es Industrie gab und Arbeitsplätze. Heinz Kohn war 40 Jahre lang Geschäftsleiter im CIPI. "Man nennt mich die Erinnerung der Gemeinde", erzählt er schmunzelnd. Zu dieser Erinnerung gehören auch die überlieferten Geschichten aus den Anfangsjahren. Damals, weiß Kohn, haben ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des CIPI regelmäßig in Santos am Hafen gestanden und Neuankömmlinge in Empfang genommen. Sie haben sie nach Sao Paulo gebracht, bei der Beschaffung der nötigen Dokumente und bei der Arbeitssuche geholfen. Sie haben getröstet und im CIPI für Zerstreuung gesorgt. Dort konnte man spielen, es gab Musik und Unterhaltung.
Das Gemeindehaus war Lebensmittelpunkt vieler Migranten und blieb es zumeist über Jahre. Man kam am Freitag Abend zum Shabbat, zu hohen Festtagen und gründete Gruppen für Frauen, ältere Menschen und Kinder. Erstaunlich, wie viele Männer noch heute mit glänzenden Augen von den Abenteuern schwärmen, die sie mit der Pfadfindergruppe erlebt haben.
Gemeinde im Wandel
Die Juden aus Deutschland seien gebildet gewesen, kultiviert und hätten ein ausgeprägtes Bewusstsein für Gerechtigkeit und soziale Verantwortung gehabt, sagt Rabbi Sternschein, seit 2008 Rabbi der Gemeinde. Sie konnten auf eine fast hundertjährige liberale Tradition zurückblicken, waren geschult von Denkern wie Moses Mendelssohn, Martin Buber, Kant, Hegel und Nietzsche. "All das brachten sie hier her." In die Gemeinde. Und in die Stadt.
Die Congregacao Israelita Paulista ist die größte jüdische Gemeinde in Lateinamerika geworden. Etwa 1500 Familien gehören ihr heute an, insgesamt rund 8000 Menschen. Angeboten werden Jugend-, Senioren- und diverse Studiengruppen, es gibt mehrere große Feierlichkeiten pro Jahr und rund 50 Hochzeiten. Aber etwas hat sich über die Jahrzehnte verändert. Die aus Deutschland stammenden Juden und ihre Nachkommen sind in die brasilianische Gesellschaft integriert. Das CIP ist nicht mehr das Zentrum ihres Lebens. Heute, sagt Rabbi Sternschein, steht die Gemeinde vor ganz neuen Herausforderungen. Sie müsse sich fragen, wie das Judentum bedeutsam bleiben, wie es dazu beitragen kann, Antworten auf die großen Fragen moderner Menschen zu finden. Etwa, wie man sinnvoller lebt. "Wenn wir gute Antworten finden", sagt Rabbi Ruben Sternschein, "dann werden wir auch künftig Erfolg haben."