Salzburger Festspiele: Zwischen Himmel und Hölle
19. Juli 2024Ein Wust von Zahlen: 172 Aufführungen an 44 Tagen, 15 Spielstätten und eine Viertelmillion erwarteter Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt (vergangenes Jahr zählte man in Salzburg, allen Kriegen und Krisen zum Trotz, 79 Nationen, davon 40 außereuropäisch) - das alles sind die Salzburger Festspiele. Anderthalbtausend Künstler, darunter die größten Stars der Opern- und Theaterbranche, wirken bei dem traditionsreichen Kulturevent in der Stadt im Nordwesten Österreichs mit. Das Programm von wurde konzipiert und koordiniert von einem internationalen Team um Intendant Markus Hinterhäuser.
Das Thema 2024: "Zwischen Himmel und Hölle"
Bereits im Dezember 2023 hatte die Festspielleitung das Programm vorgestellt: zehn Operninszenierungen und ebenso viele Sprechtheaterstücke, flankiert von zahlreichen Konzerten, Ausstellungen und Gesprächsveranstaltungen. "Bewegungen zwischen Himmel und Hölle zeichnen die Werke des Festspielsommers 2024 nach", so der Grundgedanke von Markus Hinterhäuser. Sie sollen dem Publikum "von der elementaren Schönheit des Maßlosen ebenso wie von den darin verborgenen "dämonischen" Abgründen, von grenzenloser Einsamkeit und der schwindelerregenden gottlosen Freiheit" erzählen.
Vor allem in der Sprache der Klänge - fünf der zehn Festspiel-Opern werden nur konzertant, also ohne Inszenierung präsentiert. Es wird gemunkelt, dass das Publikum hiermit für die Zeit ab 2027 trainiert werden soll, wenn die umfangreiche Sanierung der Salzburger Festspielhäuser ansteht. Das werde eine "wirkliche Ausnahmesituation" sein, sagt Intendant Hinterhäuser. Eine Situation, mit der sich allerdings nicht mehr er, sondern der nächste, noch nicht benannte Intendant des Festivals arrangieren muss.
Auf jeden Fall geht es dieses Jahr - zum ersten Mal in der Geschichte der Festspiele - konzertant los: am 26. Juli mit "Capriccio" von Richard Strauss. Der Einakter aus dem Jahr 1941 spielt in der Rokoko-Zeit. Christian Thielemann dirigiert das Festspielorchester, die Wiener Philharmoniker.
Nur zwei Tage später folgt die Wiederaufnahme von Mozarts "Don Giovanni". Die umjubelte wie verrissene Inszenierung des italienischen Regisseurs Romeo Castellucci aus dem Jahre 2022, wo schon mal eine Edelkarosse auf die Bühne des großen Festspielhauses hinunterplumpst, wird Theodor Currentzis musikalisch gestalten. Der gebürtige Grieche mit russischem Pass, der wegen seines Schweigens in Sachen Ukraine-Krieg in der Kritik steht, dirigiert sein im Westen gegründetes Orchester "Utopia".
Von Don Giovanni, dem tragischen Macho, geht es weiter zu anderen Figuren, die ebenso mit ihren Dämonen zu tun haben und sich, wie Markus Hinterhäuser sagt, "gegen eine Welt auflehnen, in der sie sich nicht zurechtfinden". Darunter auch diverse Dostojewski-Figuren: ob in "Der Idiot", einer Oper von Mieczysław Weinberg, oder in "Der Spieler" von Sergej Prokofjew.
Zu den Höhepunkten des Konzertprogramms gehört die Reihe "Zeit mit Schönberg" zu Arnold Schönbergs 150. Geburtstag (im September 2024).
Theater in Salzburg: Weg vom Mainstream
So moderat salzburgisch-konservativ die Opernsparte des Festivals auch sein mag, so draufgängerisch präsentiert sich das Schauspielprogramm. Es ist eine Premiere für die neue Chefin der Sparte, die in Baku geborene Russin Marina Davydova.
Sie gilt als führende russische Theaterkritikerin und Regisseurin. Anders als Dirigent Currentzis hat sich Davydova gleich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine radikal gegen den Krieg positioniert. Sie hat bereits Festivals wie die "Wiener Festwochen" künstlerisch geleitet und wurde vor zwei Jahren ins Salzburg-Team geholt. Das war eine wichtige Geste der Solidarität für alle russischen Kulturschaffenden, die sich gegen den Krieg positionieren.
Bei der (Um)gestaltung des Schauspielprogramms ging es ihr darum, "von der traditionellen deutschen Sprechtheater-Tradition mit seinem von Bertolt-Brecht-geprägten Gestus" wegzukommen, sagte Davydova der DW kurz vor der Eröffnung des Festivals. Salzburg bewegt sich damit weg vom Mainstream zahlreicher deutschsprachiger Bühnen. Besonders hebt Davydova die Arbeit des polnischen Regisseurs Krystian Lupa hervor, der in Zusammenarbeit mit dem Jaunimo Theater Vilnius Thomas Manns "Zauberberg" inszeniert.
Mit dem neuen"Jedermann", Salzburgs Pflicht- und Paradestück, wurde der große Opernexperimentator Robert Carsen beauftragt, was ebenfalls explosives Potenzial birgt. Und Michael Maertens, der vergangenes Jahr als Hauptfigur im "Jedermann" brillierte, liest diesmal aus den Briefen des verstorbenen Kremlkritikers Alexej Nawalny aus dem Gefängnis. Zur Veranstaltung wird dessen Witwe Julija Nawalnaja erwartet.
Nina Chruschtschowa: nüchterne und respektvolle Russland-Analyse
Das Schicksal Russlands und Europas ist das zentrale Thema der diesjährigen Eröffnungsrednerin Nina Chruschtschowa. Die in Moskau geborene und in New York lebende Urenkelin des einstigen sowjetischen KP-Parteichefs Nikita Chruschtschow gilt als Expertin der zeitgenössischen russischen Geschichte. Chruschtschowa gehört zu den scharfsinnigen Kritikerinnen des Regimes von Wladimir Putin, aber auch des Westens mit seinen widersprüchlichen Reaktionen auf die Geschehnisse in Russland.
Die aktuelle "Besetzung des Kreml-Spektakels" verglich Chruschtschowa in einem DW-Interviewvergangenes Jahr mit einem Glas voller Spinnen: "Nur sind die Spinnen eigentlich ganz klein - versuchen sich aber groß zu geben". Das mache die Situation um so gefährlicher.
Zugleich ruft Nina Chruschtschowa zu einem respektvollen Umgang mit der russischen Kultur auf. Die Kraft von Dostojewskis "Verbrechen und Strafe" oder Leo Tolstois "Krieg und Frieden" läge, so Chruschtschowa, "sicherlich darin, dass sie Einblicke in die menschliche Natur generell vermitteln und nicht nur in die der russischen Seele. Auf jeden Fall wird die Weigerung, sich mit der russischen Kultur zu befassen, Putin nicht umstimmen oder ihn zwingen, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Aber sie würde eine potenzielle Informationsquelle über seine Ziele und Motivationen abschneiden."