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Ruth Weiss: Ein Leben für die Gerechtigkeit

Martina Schwikowski
25. Juli 2024

Die jüdische Journalistin Ruth Weiss wird 100 Jahre alt. Die Apartheid erlebte sie teils in Südafrika, teils im Exil. Unermüdlich schrieb sie gegen Hass, Ausgrenzung und Rassismus an. Ein Porträt.

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Ruth Weiss sitzt in schwarzem Pullover mit rosa-blauem Schal in einem Sessel.
Ihr Leben war ein Kampf für Gerechtigkeit und gegen Rassismus: Die jüdische Journalistin Ruth WeissBild: DW

Auch in ihrem 100. Lebensjahr ist die jüdische Schriftstellerin und Journalistin Ruth Weiss noch eine gefragte Zeitzeugin. Sie warnt vor Judenhass und der Ausgrenzung Andersdenkender und gibt ihre Erfahrungen unermüdlich weiter. Und sie ist reich an Erfahrungen - ihr Leben war geprägt vom Engagement gegen Diskriminierung und Rassismus.

Sich immer einen kritischen Blick bewahren, so lautet ihr Ratschlag an die junge Journalisten-Generation. Man könne nicht journalistisch arbeiten, wenn man keine Vorstellung davon habe, wie die Welt sein soll, sagt Weiss im DW-Interview. "Sie haben jeden Tag Zugang zu dem, was passiert ist, und können beurteilen, wo ein bestimmtes Ereignis hineinpasst. Sie wollen Gleichheit - und dass die koloniale Haltung verschwindet." Dafür kämpfte sie selbst ein Leben lang.

Flucht ins südafrikanische Exil

Ruth Weiss wird am 26. Juli 1924 als Ruth Löwenthal als Kind jüdischer Eltern im fränkischen Fürth geboren. Ihre Familie lebt in Nürnberg, als die Nationalsozialisten die Herrschaft übernehmen. Schnell spüren sie den Hass gegen alles Jüdische, ihr Vater verliert seine Arbeit und emigriert 1933 zu Verwandten nach Südafrika. 1936 folgt die Mutter mit den beiden Töchtern nach. Das Schiff, mit dem sie von Hamburg ablegen, ist eines der letzten, das nach Südafrika fährt.

Doch Ruth merkt schnell, dass sie auch hier nicht willkommen ist: Vom ersten Tag ihrer Ankunft an habe sie gewusst, wie ihre Einstellung zu ihrer neuen Exil-Heimat sein würde, erzählt Weiss der DW. Bereits bei den ersten Begegnungen - sie wohnen in einem weißen Arbeiterwohngebiet in der Industriemetropole Johannesburg - ist die damals Zwölfjährige mit dem Antisemitismus weißer südafrikanischer Faschisten und dem brutalen Rassismus gegen Schwarze konfrontiert.

Nelson Mandela (links) erhält die Berichte der Versöhnungskommission, einen Stapel Bücher, von Erzbischof Desmond Tutu, schwarz gekleidet
Einen Teil der Gräueltaten der Apartheid arbeitete Südafrika auf: Hier übergibt Erzbischof Desmond Tutu den Bericht der "Wahrheits- und Versöhnungskommission" an Präsident Nelson Mandela (Oktober 1998)Bild: Walter Dhladhla/dpa/picture alliance

Diese Erlebnisse werden ihr Bewusstsein schärfen: Ihre Erfahrungen aus dem Leben in zwei Diktaturen bestimmen fortan ihren Einsatz für Menschenrechte.

Die "falsche Religion"

In Johannesburg betreibt die Familie Löwenthal ein Lebensmittelgeschäft. Täglich beobachtet die junge Ruth, wie weiße Polizisten schwarze Südafrikaner demütigen. Auch sie selbst erfährt Ablehnung im Alltag - in der Schule: In dem von Weißen dominierten Land "hatten wir die richtige Hautfarbe", erzählt sie, "aber die falsche Religion".

Nach ihrem High-School-Abschluss arbeitet Weiss zunächst als Angestellte in einer Rechtsanwaltskanzlei. Für die junge Jüdin ist die Apartheid inakzeptabel. Sie beginnt, sich mit Gleichgesinnten in einem Kulturverein zu treffen. Hier lernt sie auch Hans Weiss, ihren späteren Ehemann, kennen, der als Journalist arbeitet.   

Unter seinem Namen beginnt sie zu schreiben und berichtet für europäische Medien über die Gräueltaten der Apartheid und den wachsenden Widerstand der schwarzen Südafrikaner. Sie übernimmt auch Recherchereisen für ihn, etwa nach Tanganjika, ins spätere Tansania. Das ist der Auftakt für zahlreiche Reisen auf dem afrikanischen Kontinent.

Kampf gegen die Apartheid

Als ihre Ehe scheitert, beginnt in den 1960er Jahren ihre eigentliche journalistische Karriere. Weiss emanzipiert sich als renommierte Finanzjournalistin, aber auch als politische Reporterin, die den Unabhängigkeitsbewegungen in Sambia und dem heutigen Simbabwe sowie den Anti-Apartheid-Bestrebungen in Südafrika viel Sympathie entgegenbringt.

Weißer Polizist im hellen Hemd (rechts) weist schwarzen Protestanten (links mit blauer Arbeitskleidung und Plakat) zurück
Das Apartheidregime in Südafrika unterdrückte die schwarze Mehrheit der Bevölkerung - das Bild zeigt Unruhen vor den Wahlen 1994, die Mandelas ANC gewannBild: ALEXANDER JOE/AFP/Getty Images

Weiss nutzt ihre Position als anerkannte Journalistin, um gegen das Unrecht der Apartheidpolitik in Südafrika zu protestieren. Sie knüpft Kontakt zu zahlreichen Persönlichkeiten der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen, darunter Robert Mugabe, der spätere Diktator Simbabwes, Sambias Ex-Präsident Kenneth Kaunda und Südafrikas Befreiungsheld Nelson Mandela. Sie interviewt Mandela vor seiner Verhaftung 1963 und arbeitet für südafrikanische Zeitungen.

1966 verlässt sie schließlich den Kontinent und zieht nach London. Sehr lange darf sie anschließend weder nach Südafrika noch ins damalige Süd-Rhodesien einreisen. Sie bleibt in London und arbeitet für zahlreiche Zeitungen, darunter den Guardian.

Freiheit statt Kolonialismus

Von 1975 bis 1978 leben Ruth Weiss und ihr Sohn Sascha in Köln, Weiß arbeitet dort in der Afrika-Redaktion der DW. Es folgen Jahre als Freiberuflerin, erneut in London. 1980 zieht sie nach Harare und begleitet dort die Unabhängigkeit in Simbabwe. Erst im Jahr 2002 hält sie es wieder dauerhaft in Deutschland aus und zieht ins westfälische Lüdinghausen. Drei Jahre später wird sie für den Friedensnobelpreis nominiert.

Wenn sie heute zurückblicke, falle ihr ein besonderer Moment ein, erzählt Ruth Weiss der DW: Die Unabhängigkeitsfeier Kenias, an der sie 1963 teilnimmt, habe sie nachhaltig beeindruckt. Damals zogen die britischen Kolonialisten ab. "Es war einfach eine solche Freude, eine Erleichterung nach all den Jahren. Es war ein neuer Anfang, man hatte solche Hoffnung auf die Zeit der Entkolonialisierung", so die Journalistin.

Doch "die Enttäuschung war unvermeidlich", fügt sie an. "Viele Europäer denken immer noch, dass sie in kolonialen Verhältnissen leben und die afrikanischen Länder nur die Lieferanten des Reichtums sind. Das muss sich ändern." Auch Deutschland habe nicht genug gegen den Kolonialismus getan, sagt sie mit Blick auf die brutale Herrschaft im damaligen Deutsch-Südwestafrika, heuteNamibia. Der Kolonialismus habe die Entwicklung Afrikas behindert. 

"Afrika nie ganz verlassen"

Ihre Eindrücke und Erfahrungen gibt Ruth Weiss seit Jahrzehnten wieder, um aufzurütteln und zu sensibilisieren. Für ihr Engagement wurde sie vielfach ausgezeichnet, in Aschaffenburg ist seit 2010 auch eine Realschule nach ihr benannt, seit 2020 ist sie Ehrenpräsidentin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Ruth Weiss in blauer Jacke vor einem Mikrofon
Sehr oft in ihrem Leben hat Ruth Weiss Schulen besucht - hier in Bochum - um vor Antisemitismus zu warnenBild: Andreas Keuchel/dpa/picture alliance

Heute lebt Weiss bei der Familie ihres Sohnes in Dänemark. Auch im hohen Alter schreibt sie noch Sachbücher sowie historische und politische Romane. Ihr Buch für Jugendliche, "Meine Schwester Sara" (2004), das sich mit der Apartheid in Südafrika beschäftigt, gehört in vielen Schulen zur Pflichtlektüre. Im Jahr 2014 erhält sie das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, 2023 den prestigeträchtigen südafrikanischen Nationalorden "Companions of O.R. Tambo", benannt nach Oliver Reginald Tambo, dem früheren Präsident des Afrikanischen Nationalkongresses. Im April 2024 folgt der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. 

All diese Ehrungen zeugen von ihrem unermüdlichen Streben nach Gerechtigkeit, das trotz ihres Alters anhält: Noch heute verfolgt Ruth Weiss die politischen Debatten imSüden Afrikasund weltweit. Ein turbulentes Leben zwischen den Kontinenten bringe auch die Frage nach der eigenen Heimat mit sich, schreibt sie in ihrer 2016 erschienen Biografie "Wege im harten Gras". Im DW-Gespräch sagt die Jubilarin dazu: "Ich habe Afrika nie ganz verlassen, aber wo ist mein Zuhause? Wo die Menschen mit mir gehen und schreiten, sich nicht nur auf ihre Karriere konzentrieren, sondern sich um andere Menschen kümmern. Ich bin froh, dass so viele Menschen das ernst genommen haben. Das ist meine Heimat."

Mitarbeit: Josephine Mahachi

Enttäuschte Hoffnung - Südafrikas schwieriger Weg