Rustam Kasimjanov: "Eigenes Ego vergessen"
26. November 2021DW: Als Sekundant und Trainer waren Sie in den letzten 15 Jahren an mehreren WM-Kämpfen beteiligt. Der Norweger Magnus Carlsen verteidigt jetzt seinen Titel gegen den Russen Jan Nepomniachtchi. Glauben Sie, dass der Herausforderer eine Chance hat?
Rustam Kasimjanov: Er hat eine Chance: Nepomniachtchi ist stilistisch nicht sehr angenehm für Magnus Carlsen. Er hat eine Stärke, die fast alle anderen nicht haben: Schnelligkeit. Das macht ihn gefährlich für Carlsen. Nepomniachtchi macht viele gute Züge in weniger als einer Minute. Dann kommt Carlsen nicht zur Ruhe und das macht dann alles viel komplizierter. Natürlich kann das auch schief gehen, aber es kann auch viele Stärken von Carlsen zunichtemachen. Es kann aber auch sein, dass Nepomniachtchi den Druck spürt und seine Schnelligkeit nicht ausspielen kann, dann hat er keine Chance.
Wie wichtig ist eine gute Vorbereitung für Herausforderer Jan Nepomniachtchi?
Das ist sehr wichtig - denn es kommt darauf an, dass er gegen Carlsen sein bestes Schach aufs Brett bringen kann. Wenn die Vorbereitung gut läuft und er mit neuen Ideen nach Dubai kommt, dann ist das gut für ihn. Aber vielleicht haben er und sein Team auch Probleme gehabt, nicht viel Neues entdeckt, saßen in den letzten Tagen verunsichert in ihrem Hotel in der Nähe von Moskau - und die Nerven liegen jetzt schon blank.
Sie kennen die Vorbereitung auf ein WM-Duell aus ihrer Arbeit für Ex-Weltmeister Vichy Anand und den WM-Finalisten von 2018, Fabiano Caruana. Wie gehen die Spieler eine Weltmeisterschaft an?
Am Anfang trifft sich immer ein Gruppe Großmeister in einem Hotelzimmer. Das ist ein Brainstorming. Wir stellen uns die Frage, was können wir anders machen? Da geht es nicht nur um Schachvarianten, sondern z.B. auch um die physische Vorbereitung und um Ernährung. So formt sich dann in den Monaten vor dem WM-Kampf ein Team. Das haben alle Weltmeister so gemacht - mit Ausnahme von Bobby Fischer [Weltmeister von 1972 bis 1975 - Anm. d. Red.], der hat oft alleine trainiert.
Wie bildet sich ein schlagkräftiges Trainer-Team, das in einem WM-Kampf optimal funktioniert?
Wichtig ist, dass alle ihre Egos vor der Tür lassen. Es geht doch darum, dass die Weltmeisterschaft eine großartige Möglichkeit für den Spieler ist, für den ich arbeite, da muss ich mein eigenes Ego vergessen. Man muss ein vernünftiges Team aufbauen - nicht nur "Avengers" mit Egos. Im Schach geht es bei einer WM-Vorbereitung vor allem darum, neue Wege in den ersten zwanzig Zügen der Partie zu finden, um den Gegner zu überraschen. Unser Traum ist, eine Stellung zu finden, die wir kennen, aber unser Gegner nicht.
Wie läuft die Zusammenarbeit zwischen Spieler und Sekundanten?
Der Spieler muss versuchen, alle Kenntnisse des Teams zu verstehen. Er bekommt viel neues Material, denn bei jeder WM kommen neue Ideen auf das Brett. Dazu müssen die Sekundanten ihre Ideen für neue Eröffnungszüge in verständlichen Paketen präsentieren. Je mehr man als Sekundant liefert, desto größer ist die Gefahr, dass der Spieler überwältigt ist. Es hilft ja nicht, wenn der Spieler die Ideen nicht versteht - oder wenn er nicht bereit ist, diese Varianten zu spielen, weil er ihnen nicht vertraut. Für den Spieler bedeutet das vor einem WM-Kampf auch, dass er viel auswendig lernen muss und das wird regelrecht getestet - bis die Varianten sitzen. Aber es passiert immer wieder, dass ein Spieler etwas vergisst. Das ist dann schrecklich: Da hat man sich mit einer Zugfolge drei Wochen lang auseinandergesetzt - und dann vergisst der Spieler seine Vorbereitung und verspielt die Variante in zehn Minuten.
Woran merkt man, dass die Zusammenarbeit in einem WM-Team nicht so gut funktioniert?
Die größte Gefahr bei der Zusammenarbeit ist, dass der Spieler das Vertrauen verliert. Das ist das Schlimmste. Im Grunde finde ich: Wenn man ein Team hat, dann sollte man ihm auch vertrauen. Wir Sekundanten haben mehr Zeit als der Spieler. Während einer WM analysieren wir - wenn nötig - über Nacht neue Ideen. Wenn der Sekundant fünf Stunden mit Computerhilfe an einer bestimmten Stellung gearbeitet hat, dann sollte der Spieler zuhören. Ein Sekundant ist wie ein Beifahrer im Rallye-Auto, der Fahrer muss sich auf seine Ansagen verlassen!
Gab es in dieser Hinsicht Unterschiede in der Arbeit mit Ex-Weltmeister Viswanathan Anand und mit dem WM-Finalisten Fabiano Caruana?
Mit Anand lief das fast perfekt. Wir haben ihn immer gefragt: 'Vichy, bist du zufrieden?' - die Zusammenarbeit war sehr eng. Bei Fabiano Caruana war das etwas anders - über längere Strecken wollte er nicht wissen, was seine Sekundanten machten. Erst wenn wir fertig waren, hat er sich unsere Arbeit angeschaut, aber auch nicht immer.
Wie hat sich das Spitzenschach in den letzten Jahren verändert - zum Beispiel durch den Einsatz von Schach-Computern?
Die Schach-Programme werden immer stärker, aber ich habe keinen Unterschied bemerkt, was meine Arbeit als Sekundant betrifft. Es geht immer darum, mit Hilfe der Computer möglichst viel zu analysieren und neue Möglichkeiten zu finden. Insgesamt aber hat sich der Schachsport verändert. Die jungen Spieler heutzutage spielen viel mehr als wir früher - und sie spielen eher trocken und sehr kontrolliert. Sie gehen auch weniger Risiken ein als die Topspieler früher. Sie opfern zum Beispiel sehr ungerne Figuren in unklaren Situationen. Magnus Carlsen ist da eine Ausnahme: Er macht das. Carlsen ist sehr universell und er hat die klassischen Partien seiner Vorgänger als Weltmeister sehr gut studiert. Die anderen Top-Spieler um ihn herum scheinen diese Flexibilität nicht zu haben - deshalb ist Carlsen besser.
Rustam Kasimjanov (Jahrgang 1979) ist Schach-Großmeister und war von 2004 bis 2005 FIDE-Weltmeister. Aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Ex-Weltmeister Viswanathan Anand und WM-Finalist Fabiano Caruana ist er einer der bekanntesten Sekundanten im Schachsport. Kasimjanov kommt aus Usbekistan und lebt mit seiner Familie in Deutschland, in der Nähe von Bonn.
Das Interview führte Holger Hank.
Porträtfoto Kasimjanov (© ChessBase GmbH https://de.chessbase.com/)