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Politik

Russlands Armee: Die überschätzte Macht

Miodrag Soric
28. September 2022

Beim russischen Überfall auf die Ukraine glaubte Präsident Putin mutmaßlich an einen schnellen Sieg. Das war eine Illusion - wie die jetzt verkündete Teilmobilmachung zeigt. Wie stark ist Russlands Armee tatsächlich?

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Soldaten auf einem gepanzerten Minenräumfahrzeug mit Z-Symbol
Russische Soldaten auf einem gepanzerten Minenräumfahrzeug mit Z-SymbolBild: Vladimir Gerdo/TASS/dpa/picture alliance

Nach dem Untergang der Sowjetunion tat Moskau alles, um seinen Status als Supermacht zu erhalten - auch als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Zwar gab das Bruttoinlandsprodukt des Landes die herausgehobene Stellung unter den Staaten nicht her, die Sowjetunion konnte ökonomisch mit vielen westlichen Ländern nicht mithalten. Moskaus Anspruch als Großmacht begründete der Kreml stets militärisch: Russland, so hieß es über die Jahrzehnte, verfüge über eine der größten und schlagfähigsten Armeen der Welt - samt Atomwaffen. Um das immer wieder in Erinnerung zu rufen, versorgte Präsident Putin die Welt regelmäßig mit Bildern von perfekt choreographierten Militär-Paraden in Moskau oder Manövern seiner Streitkräfte.

Wie schlagkräftig eine Armee wirklich ist, beweist sie jedoch nicht im Stechschritt auf dem Roten Platz, sondern in den Schützengräben auf dem Schlachtfeld. Und da werden die Russen im Osten der Ukraine vorgeführt von einer viel kleineren Armee, einer, die es vor ein paar Jahren noch gar nicht gab. Wie kann das sein?

Wie groß ist Putins Armee wirklich? 

Auf dem Papier hätten die russischen Streitkräfte eine Soll-Größe von 1 Million Soldaten, in Zukunft sogar von 1,1 Millionen, so Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die reale Größe sei aber niedriger, erklärt sie gegenüber der Deutschen Welle. Ein Großteil der einsatzbereiten russischen Einheiten sei schon in der Ukraine eingesetzt worden. "Sie haben große Verluste durch getötete oder verletzte Soldaten zu verzeichnen," so die Verteidigungsexpertin. Genaue Zahlen gibt es nicht. Doch der US-Geheimdienst CIA glaubt, dass Russland Zehntausende Tote und Verletzte zu beklagen habe.

Orthodoxer Priester hält ein Kreuz vor russische Reservisten
Ein orthodoxer Priester hält einen Gottesdienst für russische Reservisten bei der Rekrutierung in Bataysk abBild: Sergey Pivovarov/REUTERS

Gelitten haben bislang Regimenter, die in Friedenszeiten im asiatischen Teil Russlands stationiert sind, meint George Barros vom US-Thinktank "Institute for the Study of War". Die Vorstellung, dass Russland über Reserven an einsatzbereiten Soldaten verfüge, habe mit der Realität nichts zu tun, sagte er dem deutschen Auslandssender. Der bisherige Verlauf des Krieges beweise, dass die Welt die Stärke der russischen Armee lange überschätzt habe, so Barros.

Russland müsse jetzt Reservisten einberufen, um die Lücken, die durch die Verluste entstanden sind, aufzufüllen, erklärt Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Letztlich verfolge Putin mit der Einberufung der Reservisten das Ziel, so Barros, den derzeitigen Frontverlauf zu halten.

Ohne Training oder Ausrüstung an die Front

Wie es um Russlands militärische Stärke bestellt ist, zeigt, wer derzeit zum Dienst an der Waffe eingezogen wird. "Da sind Männer dabei, die über 50 Jahre alt sind und Gesundheitsprobleme haben," so der Verteidigungsexperte. Zahlreiche Beispiele in den sozialen Medien bestätigen diese Beobachtung.

Reservisten müssten vor ihren Einsatz im Krieg trainiert und ausgerüstet werden, meint Barros. Viele würden jedoch nur ein ein- oder zweimonatiges Training erhalten, was nicht ausreiche. Andere würden in Russland gar ohne Training oder Ausrüstung an die Front geschickt, sagt er. Er glaube kaum, dass man mit solchen Reservisten militärische Erfolge erzielen könne. Lediglich die Zahl der Toten und Verletzten dürfte zunehmen.

Junge Männer aufgereiht vor einem Soldaten
Russland verfügt über mehr Reservisten wie diese russischen Rekruten in Krasnodar. Doch oft fehlt es an Training und AusrüstungBild: AP/dpa/picture alliance

Das sieht der russische Sicherheitsexperte Pavel Luzin genauso. Er hält sich derzeit in den USA auf. Seiner Meinung nach wird die Ukraine weiterkämpfen, trotz des Scheinreferendums, welches Putins Schergen im Osten des Landes abgehalten haben. Ferner meint Luzin, dass Russlands Rüstungsindustrie nicht in der Lage sei, kurzfristig für Nachschub zu sorgen; schon gar nicht für die derzeit einberufenen Reservisten. Es gebe noch alte Waffen und Geschosse aus Sowjetzeiten, die in Russland eingelagert seien, meint Margarete Klein.

Waffen fehlen

Doch auch hier sei nicht sicher, ob durch Korruption ein Großteil dieser Waffen nicht bereits weiterverkauft worden sei oder ob das Material im Krieg überhaupt eingesetzt werden könne. Der russischen Rüstungsindustrie fehle es an Chips für Hochpräzisionswaffen und anderen Ersatzteilen, sagt Klein. Russland habe jedoch den Vorteil, über mehr Menschen zu verfügen und damit langfristig immer neue Reservisten in den Krieg schicken zu können, meint gegenüber der DW Ted Galen Carpenter vom CATO-Institut in Washington.

Soldat mit Helm, darauf Z-Symbol und russische Flagge
Russischer Soldat mit Z-Symbol am Checkpoint in MelitopolBild: Sputnik/imago images

Um im Krieg erfolgreich zu sein, brauche es viele Komponenten, sagt George Barros vom US-Thinktank "Institute for the Study of War". Soldaten, moderne Waffen, gutes Training, Führung, Motivation, Logistik, seinen nur einige von ihnen. "Einfach mehr Männer an die Front zu schicken, wird das Problem, welches die Russen haben, nicht lösen." Die ukrainischen Kräfte würden auch jetzt weiter vorrücken. "Ihre Offensive ist nicht vorbei," sagt Barros.

Die Russen hingegen seien derzeit froh, wenn sie bestehende Positionen halten könnten. In der Vergangenheit seien Russlands Kräfte denen der Ukraine deutlich überlegen gewesen, auch was die Qualität der Waffen und die Zahl der Soldaten betrifft. Doch die militärische Führung Moskaus habe diese taktische Überlegenheit nicht nutzen können, um strategische Ziele im Krieg zu erreichen, analysiert er.

Einsatz von Atomwaffen soll den Westen einschüchtern

Übrigens auch nicht mit gut trainierten und ausgerüsteten Söldnern, wie der so genannten Wagner-Gruppe. Ihre Zahl betrug vor dem Krieg etwa 8000 bis 9000 Kämpfer. Sie würden aber nicht nur in der Ukraine eingesetzt, meint Barros. Im Osten der Ukraine kämpften sie wie einfache Infanterie-Soldaten. Sie würden den Kriegsverlauf nicht wesentlich beeinflussen, glaubt er.

Foto eines Atompilz' über dem Ozean
Drohkulisse atomare Explosion: Der russische Präsident Putin droht mit dem Einsatz von AtomwaffenBild: McPHOTO/M. Gann/picture alliance

Einig sind sich die Experten, dass die Drohung mit nuklearen Waffen den Westen einschüchtern soll. "Diese Drohung ist nicht neu", so Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ziel sei es, die Unterstützung des Westens für die Ukraine zu unterminieren. Militärisch bringe der Einsatz von Atomwaffen nichts. Nur politisch könne der Einsatz Sinn machen; etwa wenn das Regime in Moskau vor einer militärischen Niederlage stehe. Margarete Klein hält einen Einsatz von Atomwaffen dennoch für wenig wahrscheinlich. Er hätte zur Folge, dass Putin die Unterstützung durch China oder Indien verlöre. Hingegen sagt Ted Galen Carpenter von CATO: "Steht Putin vor der Wahl entweder Atomwaffen einzusetzen oder sich für seine Verbrechen vor einem internationales Gericht verantworten zu müssen, wird er sich für die nukleare Option entscheiden."

Barros und andere Experten glauben, dass nach den derzeit verlaufenden Schein-Referenden, Putin den Osten und Süden der Ukraine annektieren werde. Danach könne er auch Wehrpflichtige und Truppen des Innenministeriums in diesen Gebieten einsetzen, was derzeit aus juristischen Gründen verboten sei. "Russlands Kräfte brauchen eine Pause, sie sind erschöpft", meint Barros. Er rechnet mit weiteren Offensiven der ukrainischen Seite noch in diesem Winter.

Schnelles Ende des Krieges in Sicht?

Ted Galen Carpenter von CATO meint, dass Russland ein schnelles Ende des Krieges wolle. Die Ukraine und der Westen sollten sich verhandlungsbereit zeigen. Ganz anders sehen das Margarete Klein oder George Barros, die nicht an ein schnelles Endes des Krieges glauben. Putin hoffe, dass der Westen seine Unterstützung für die Ukraine aufgibt. Von dieser fortlaufenden Unterstützung hänge tatsächlich der Ausgang des Krieges ab, so Klein. Wirklich beendet könne dieser Krieg nur werden, wenn Russland eine totale Niederlage erleide, sagt der russische Sicherheitsexperte Pavel Luzin.