Krieg gegen die Ukraine: Russische Drohnen treffen Rumänien
15. September 2023Bei jeder Bodenwelle scheppert Ceraselas Geländewagen wie ein leerer Kessel, der auf Beton rollt. Die Fenster lassen sich nicht mehr öffnen, vor lauter Erschütterungen und wegen des ständig aufsteigenden Staubs, wenn Autos vorbeifahren, wenn die Kühe von der Weide zurückkehren oder wenn der Wind weht. Die Heckscheibe ist längst hin, ein Stück Pappe dient als Ersatz. Cerasela hat sich bewusst für den Kauf eines alten, gebrauchten Autos entschieden - genauso wie die anderen Menschen hier, die in den abgelegenen Dörfern des Donaudeltas leben, im äußersten Osten der Europäischen Union. An ihrer letzten Grenze, dort wo die Sonne zum ersten Mal aufgeht in der EU und wo der Abend früher beginnt.
Der Krieg rückt näher
Periprava, ein Dorf auf einer Insel. Bis Sulina erstrecken sich Wälder und Sanddünen zwischen Seen, die mit den Armen und Kanälen der Donau verbunden und nur mit dem Boot passierbar sind. Am östlichen Rand dieses Landstrichs liegt das Schwarze Meer.
"Pasagerul", das Schiff, das Menschen und Waren bis hierher und zurück transportiert, fährt alle zwei Tage. An ungeraden Tagen kommt es, an geraden Tagen legt es ab. Es ist Samstag. Ein Weg vom Hafen Tulcea durch den Chilia-Donauarm, der Rumänien von der Ukraine trennt, dauert etwa vier Stunden.
"Alles war traumhaft hier, bis eines Tages in unserer Nähe der Krieg ausbrach. Er holte uns aus dem Schlaf." Es war ein Uhr nachts und der erste Knall war so laut, dass Cerasela dachte, irgendetwas wäre im Hof passiert. "Ein Erdbeben, eine Bombe, die Gasflasche eines Nachbarn - du schreckst hoch und rennst aus dem Haus." Alle Dorfbewohner wachten auf, gingen vor ihre Tore, begannen zu reden, einander zu fragen. "Unsere erste Sorge war, herauszufinden, was es war - und wo. Vom Dorf aus ist der Blick auf die Donau durch Vegetation versperrt, also gingen wir zum kleinen Hafen. Von dort aus sahen wir die Brände jenseits der Grenze, in der Ukraine. Uns wurde klar: Wir sind hier lebende Ziele, völlig unschuldig. So wie die Zivilisten in der Ukraine. Zivilisten desselben Kriegs, die jederzeit sterben können."
Cerasela Cilibon stammt aus einer türkischen Familie, deren frühere Generationen auf der Donau-Insel Ada Kaleh lebten, die im Jahr 1971 beim Bau des rumänisch-jugoslawischen Wasserkraftwerks am Eisernen Tor in den Donaufluten versank. Sie studierte und lebte in Bukarest, zog aber während der Corona-Pandemie nach Periprava. In der Hauptstadt hatte sie den Eindruck, dass ihr die Decke ihrer Blockwohnung auf den Kopf fällt. Sie musste raus - und kam hierher, "weil die Landschaft unwirklich schön ist, die Natur noch jungfräulich, die Luft sauber, der Fisch frisch." Und hier blieb sie auch, nachdem die Pandemie vorbei war.
Der Mitternachts-Schrecken
Viele Menschen in Rumänien wissen nicht, wo Periprava liegt. "Für Rumänien spielen 100 Einwohner keine Rolle. Selbst die Menschen in Tulcea wissen nicht genau, wo Periprava liegt. Es ist nur für diejenigen von Bedeutung, die den Ort betreten und sich in ihn verliebt haben, gerade weil es hier so einfach und unwirklich schön ist", sagt Cerasela.
Für einige hat der Name eine gewisse historische Bedeutung: Während der kommunistischen Diktatur war hier ein berüchtigtes Hochsicherheitslager für politische Gefangene, dessen Ruinen noch sichtbar sind. Jenseits der Donau liegt der ukrainische Hafen Wylkowe, keine zwei Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt, im Herzen des ukrainischen Teils des Biosphärenreservats Donaudelta.
Seit Kriegsbeginn läutet der Alarm ununterbrochen, Tag und Nacht, erzählt Cerasela. Aber in der Nacht vom 3. zum 4. September 2023 sei kein Alarm losgegangen. Und die Einschläge hätten sich nächtelang wiederholt. "Das lässt dir das Blut in den Adern gefrieren. Du hörst Explosionen, du weißt nicht, wo es passiert. Nach etwa zwei Nächten wurde mir klar, dass es ein Muster gab. Und ich schlief erst ein, als es hell wurde."
Zwei Ufer, gleiche Ängste
Wie die Mehrheit der Menschen in Wylkowe, in der Ukraine, sind die meisten der rund 100 Einwohner in Periprava, am rumänischen Donauufer, russisch-stämmige Lipowaner. Ihre Vorfahren - altgläubige orthodoxe Russen - flohen im 17. und 18. Jahrhundert wegen eines Kirchenstreits aus ihrer russischen Heimat und ließen sich im Donaudelta nieder. Das Herzstück der Gemeinde liegt an der Hauptstraße zum Hafen, keine 200 Meter vom Donauufer entfernt: Es ist die alte orthodoxe Kirche, deren Türme unter den gelben Kuppeln blau gestrichen sind, ähnlich wie die Kirche in Chilia.
"Nachts hört man die Bomben, wir bleiben wach, tagsüber kommen die Dorfbewohner in die Kirche", erzählt Cerasela, die Aussteigerin aus Bukarest, die vom Dorf am Ufer des Chilia-Donauarms adoptiert wurde. "Die Kirche ist der Mittelpunkt, wir alle versammeln uns dort, es spielt keine Rolle, welchen Ritus man hat, ob man gläubig ist oder nicht."
Auf dem Kirchhof ist auch der Abgeordnete der Lipowaner-Gemeinschaft im rumänischen Parlament, Silviu Feodor. Er ist auf Tour durch die Region nahe der Kriegsgrenze. "Man erkennt, dass die Menschen hier die Schockwelle dieser Bombenanschläge gespürt haben. Dies ist nicht unser normales Leben. Wir sind Mitglieder der Europäischen Union und der NATO, und das sollte uns ein Gefühl der Sicherheit geben. Aber manchmal erkennt die Munition nicht, wo die Grenze ist, sie kann auch unser Territorium erreichen."
Es gebe Evakuierungspläne für die Einwohner, sollte sich die Lage zuspitzen, erzählt der Abgeordnete. "Unsere Organisation verfügt über optimale Unterkunftsbedingungen in den Bildungs- und Kulturzentren, die wir in den Kreisen Tulcea und Konstanza haben, so nah wie möglich an diesen Orten. Wir sind immer bereit, sowohl unsere ethnischen Gruppen als auch alle diejenigen zu empfangen, die von einer möglichen Eskalation dieses Konflikts betroffen sein könnten. Seit Kriegsbeginn nehmen wir auch Flüchtlinge auf und kümmern uns um sie, auch heute noch leben Menschen aus der Ukraine hier."
Die Geschichte der Region ist kompliziert. Im Laufe der Jahrhunderte gingen die beiden Donauufer von einer Verwaltung zur anderen über. Manchmal gehörten sie zusammen zum selben Land, manchmal standen sie sich gegenüber, getrennt nicht nur durch einen Wasserlauf, sondern auch durch die widersprüchlichen Interessen derjenigen, die die Grenzen zogen. Allerdings hatten die kleinen Gemeinden keinen Bezug zur großen Politik. "Es gibt Menschen, die Verwandte haben, einige von ihnen bleiben in Kontakt, und der Dialog ist voller Tränen", erzählt der Abgeordnete Silviu Feodor. "Es gibt dort Blutsverwandte, um die wir uns jedes Mal Sorgen machen", fügt Cerasela hinzu.
Die rumänischen Behörden machten sich weniger Sorgen um die Bewohner von Periprava, sagt eine Frau auf dem Kirchhof. "Absolut niemand kam hierher und stellte irgendwelche Fragen, nicht einmal am Telefon. Sie fragen nicht, wie es uns hier geht, ob wir es noch aushalten, ob es uns emotional gut geht oder ob wir etwas brauchen."
"Der Terror hat uns gefunden!"
Als der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba und die Cyber-Mapping-Seite GeoConfirmed.org zum ersten Mal über die südlich der Donau auf rumänischer Seite niedergegangenen Drohnen sprachen, ging Bürgermeister Tudor Cernega zum Ort der Explosion. Und er sah sofort, was die Soldaten des rumänischen Verteidigungsministeriums nicht finden konnten - oder wollten. Er ging an die Öffentlichkeit und löste mit seiner Beharrlichkeit eine Reihe beschämender Patzer bis hin zur höchsten Ebene in der rumänischen Politik aus.
Zuerst verneinten die Politiker in Bukarest den Vorfall, Präsident Klaus Iohannis wies kategorisch jeglichen Verdacht einer abgestürzten russischen Drohne auf rumänischem Territorium zurück. Um dann zwei Tage später den Vorfall zu bestätigen. Es seien tatsächlich die Überreste einer russischen Drohne, man habe Spuren einer Explosion, verbrannte und umgestürzte Bäume gefunden. Inzwischen sind Überreste weiterer Drohnen gefunden worden - die jüngsten am 13.09.2023. Und nicht nur nahe der Donau-Grenze, sondern tief im rumänischen Teil des Donaudeltas, rund 15 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt.
Von der DW kontaktierte Militär-Experten schließen die Hypothese nicht aus, dass die vom Schwarzen Meer aus gestarteten Drohnen auf dem Weg zu ihren Zielen in der Ukraine rumänisches Territorium überquert haben könnten. Einige seien fehlgeleitet gewesen. Auch die Dorfbewohner im Donaudelta scheinen davon überzeugt zu sein. "Wir haben gehört, wie sie über unsere Häuser flogen. Aber man sagte uns immer, es käme uns nur so vor."
Bürgermeister Cernega, dessen Drängen die für die Sicherheit Rumäniens Verantwortlichen auf falschem Fuß erwischte, stellt sich auf die Seite der Bürger: "Diese Leute sind nicht verrückt. Ich habe gemeldet, dass es einen Verdacht gibt. Die Behörden hätten kommen und das Gebiet überwachen müssen. Niemand hat uns ernst genommen. Jetzt hat man gesehen, was passiert ist. Da drüben ist Krieg - und der Terror hat uns gefunden!"
Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz