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Politik

Zwischen Resignation und Aufbruch

25. Oktober 2018

Junge Rumänen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen und suchen das Weite. Künstler nehmen sich des Themas an. Medana Weident auf Spurensuche in Piatra Neamt.

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Altstadt von Piatra Neamt
Die Altstadt von Piatra Neamt mit dem Theater der Jugend (vorne, Mitte) Bild: DW/M. Weident

Vom Flughafen Iasi sind es etwa 160 Kilometer bis Piatra Neamt. Zwei Stunden braucht man mit dem Auto. "Wir haben immer noch keine Autobahn. Und das im Jahr 2018. Nicht einmal eine winzige Strecke wurde hier in der Region Moldau fertiggestellt. Nicht einmal angefangen...", erzählt spürbar bitter Herr Nicu, der Fahrer, der mich nach Piatra Neamt bringt. Und wieso hat Rumänien noch keine durchgehende Autobahn, außer ein paar Teilstrecken? Und das elf Jahre nach dem EU-Beitritt? Es bleibt ein offenes Geheimnis: Schuld an der Misere ist die grassierende Korruption.       

Auswanderung als Folge der Perspektivlosigkeit

Die Region Moldau im Nordosten Rumäniens hat viele touristische Attraktionen zu bieten - zum Beispiel idyllische Landschaften, historische Weinkeller und Klöster mit berühmten Freskenmalereien, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Aber die Entwicklung nach der Wende (1989) war eine andere als die, die sich die Menschen erhofften. Die Industrie brach wie ein Kartenhaus zusammen, es folgte die Massenarbeitslosigkeit - und auf diese eine Auswanderungswelle. Hier, vor allem in ländlichen Gegenden, wachsen unzählige Kinder ohne ihre Eltern auf. Zurückgelassen werden sie - im besten Fall - bei den Großeltern. Manchmal sind es auch die Nachbarn, die sich um sie kümmern. Nicht selten beschränkt sich der Kontakt auf Gespräche über Skype. Man spricht sogar schon von "Skype-Familien". Etwa dreieinhalb Millionen Rumänen sind in den vergangenen zehn Jahren ausgewandert. Die Dunkelziffer liegt vermutlich höher. Nach Syrien ist Rumänien weltweit das Land, dessen Diaspora prozentual am stärksten gewachsen ist im Zeitraum 2000 - 2015, zeigt ein Bericht der UN von 2015. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik (INS) in Bukarest verlässt etwa alle fünf Minuten und 27 Sekunden ein Rumäne sein Land.

Herr Nicu erzählt voller Stolz, seine Tochter habe gerade ihr Medizinstudium in Iasi begonnen. Sie hätte sich bereits für einen Sprachkurs angemeldet: Deutsch. In Deutschland herrscht Fachkräftemangel und gut ausgebildete Ärzte aus dem Ausland sind sehr gefragt - daran muss ich während unseres Gesprächs denken. Man studiert vielleicht schon mit dem Gedanken, nach dem Abschluss das Weite zu suchen. Kann man es aber den jungen Leuten verdenken? 

Die Hoffnung bleibt, dass viele eines Tages keinen Grund mehr sehen, ihr Land zu verlassen. Dass die Jugend in der Heimat ihre Zukunft sieht und ihre Träume verwirklichen kann. Denn der sogenannte "Braindrain" ist kein abstraktes Phänomen, sondern überall spürbar. Es ist ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss. Die alles lähmende Korruption, die wirren politischen Verhältnisse, die tiefe Spaltung der Gesellschaft, die Hoffnungslosigkeit bringen viele dazu, ihr Glück anderswo zu suchen. Dies wirkt sich auf die gesamte Entwicklung in Rumänien aus: Ärzte fehlen, medizinisches Personal, Handwerker, Ingenieure, IT-Spezialisten.

Kunst und Theater: Aufklärung und Hoffnungsträger

Rumänien Piatra Neamt Gianina Carbunariu
Gianina Carbunariu, Intendantin des Theaters der Jugend (links), beim Publikumsgespräch mit italienischen Schauspielern Bild: DW/M. Weident

Piatra Neamt ist eine geschichtsträchtige Stadt. Den Kern bildet das historische Ensemble des Fürstenhofes von Stefan cel Mare (Stefan der Große), der bedeutendste moldauische Fürst, der Mitte des 15. Jahrhunderts für fast ein halbes Jahrhundert die Provinz regiert hat. Die Herkunft des Namens Piatra Neamt (wortwörtlich "Deutschstein") ist nicht ganz klar. Der Beiname "Neamt" ("deutsch") soll sich höchstwahrscheinlich auf die deutschen Siedler beziehen, die sich hier im Mittelalter niedergelassen haben. Die malerische Stadt am Ufer der Bistritz wird von den imposanten Gipfeln der Karpaten umrundet. Plattenbauten gibt es auch - wie ein mahnendes Zeichen aus der kommunistischen Zeit wirken sie auf den Betrachter. Die Straßen sind sauber, die Menschen offenen und freundlich. 

Ein Wahrzeichen der Stadt ist das Theater der Jugend. In diesem Herbst kann es seinen 60. Geburtstag feiern. Hier haben die erfolgreichsten Schauspieler und Regisseure des Landes ihre Karriere begonnen. Auch das vom Theater organisierte Festival, das erste internationale überhaupt in Rumänien, kann auf eine 30-jährige Geschichte zurückblicken. Nicht selten spricht man gar vom "Phänomen Piatra Neamt". Gianina Carbunariu, Regisseurin und Dramatikerin, hat die Leitung des Theaters vor einem Jahr übernommen. Sie ist eine der stärksten und eindringlichsten Stimmen in der rumänischen Theaterlandschaft.  Auch an vielen deutschen und europäischen Bühnen und internationalen Festivals, wie dem in Avignon, sorgen ihre Arbeiten für Aufsehen. Ceausescu-Diktatur, Korruption, Migration und Globalisierung sind nur einige der Themen, die sie in ihren Stücken behandelt. Carbunarius neues Werk "Work in Progress", an dem sie mit jungen Schauspielern aus ganz Italien gearbeitet hat, durchleuchtet den europäischen Arbeitsmarkt mit all seinen Facetten. Da geht es nicht nur um junge Italiener, sondern auch um die Arbeitskräfte aus Osteuropa oder Flüchtlinge. "Es war spannend zu erfahren, dass die Ausbeutungsmechanismen überall gleich funktionieren", sagt Carbunariu.

Einen Dialog mit der Gemeinschaft dieser Stadt, mit den Jugendlichen zu führen - das hat sich die 41-jährige Intendantin und Kuratorin des Festivals auf die Fahne geschrieben. So haben die meisten Stücke, die im Theater der Jugend angeboten werden, einen Bezug zum heutigen Rumänien, zu Europa. Nach den Vorstellungen hat das Publikum oft die Gelegenheit, Fragen zu stellen. "Das ist unsere Pflicht als Künstler", betont Carbunariu. "Wir können die Welt zwar nicht verändern, aber wir können sie mit Hilfe des Theaters, der Kunst, besser verstehen. Es ist eine Anregung zum Nachdenken - und das ist nicht wenig." 

Zur Mittelmäßigkeit verdammt

Sylvia Traistariu
Die Künstlerin und Museologin Sylvia Traistariu im Kunstmuseum Piatra NeamtBild: DW/M. Weident

Im Kunstmuseum der Stadt treffe ich Sylvia Traistariu, die seit einigen Monaten in diesem Hause arbeitet. Studiert hat die 36-Jährige Kunst in Klausenburg und Bukarest. Auch sie widmet sich als Malerin sozialen und politischen Themen. "Ich beobachte mit Sorge die Entwicklung unserer Gesellschaft. Auch die Europas. Denn das kann man nicht voneinander trennen." Eine Serie ihrer Gemälde trägt den Titel "Quo vadis?". "Ich versuche, darauf aufmerksam zu machen, dass wir uns in die falsche Richtung bewegen. Sorgen macht mir der zunehmende Materialismus, der Konsumwahn. Wir sind zu Sklaven des Geldes geworden in einer Welt, die einem riesigen Einkaufszentrum gleicht." Der Prozess, der sich im Westen langsam vollzogen hat, sei von heute auf morgen über Rumänien hereingebrochen. Als Künstlerin beklagt sie die Perspektivlosigkeit in Rumänien. "Junge Menschen haben hier das Gefühl, sich nicht beruflich verwirklichen zu können. Deshalb gibt es die massive Auswanderung. Es geht nicht nur ums Geld. In Rumänien, glaube ich, ist man dazu verdammt, mittelmäßig zu bleiben - egal, wie gut man ist." Sylvia Traistariu braucht wie viele Künstler einen zweiten Job, um sich über Wasser zu halten. Ob auch sie ans Fortgehen gedacht hat? "Oh ja, sehr oft!" So wie viele ihrer Kommilitonen. "Ich bin schließlich geblieben. Ich liebe mein Land und meine Familie. Ich hatte eine sehr schöne, behütete Kindheit. Nun versuche ich, hier einen Beitrag zu leisten."     

Voller Hoffnung in die Zukunft blicken

Viorela Stoian und George Bors
Für Viorela Stoian und George Bors ist das Theater der Jugend ein zweites Zuhause gewordenBild: DW/M. Weident

Zurück im Theater treffe ich zwei 18-Jährige, Viorela und George. Fasziniert von der Bühne sind beide. George träumt davon, nach dem Studium als Schauspieler an dieses Theater zu kommen. Viorela möchte Luft- und Raumfahrtingenieurin werden. Sie erzählen, dass über alle Stücke des Theaters häufig und intensiv gesprochen wird - in der Schule, in der Familie und unter Freunden. Spielt sie auch mit dem Gedanken, nach dem Studium ins Ausland zu gehen? "Nein, auf keinem Fall. Wenn, dann nur für die Zeit eines Master-Studiums. Viele in meinem Alter haben es aber vor. Mir gefällt es in Rumänien. Und ich wäre froh, wenn ich hier zu einer positiven Entwicklung beitragen könnte."

Porträt einer Frau mit schwarzen Haaren
Medana Weident Autorin, Reporterin, Redakteurin, vor allem für DW Rumänisch