Rumänien: Corona-Schuljahr startet mit Chaos und Ängsten
14. September 2020"Ich verlasse mich nicht auf die Schule", sagt der 13-jährige Matei Leoveanu enttäuscht. "Natürlich werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um mich nicht mit dem Coronavirus zu infizieren. Aber von der Schule habe ich gar keine Erwartungen mehr, denn wir bekommen sowieso immer nur dieselbe Antwort: Das Geld fehlt. Und irgendwie haben wir uns schon daran gewöhnt." Er fürchtet sich vor dem Virus - "aber nicht, weil ich selber krank werden könnte, sondern weil sich vielleicht meine Eltern bei mir anstecken".
An Mateis Gymnasium in der rumänischen Stadt Ploiesti gilt ein sogenanntes "hybrides Modell": die Hälfte der Schüler aus einer Klasse geht in die Schule, die andere Hälfte hat Online-Unterricht, nach jeweils einer Woche wird gewechselt. In ganz Rumänien gibt es zurzeit für die Schulen ein Ampel-Modell mit einer roten, gelben und grünen Phase, je nach der Anzahl der Corona-Infektionen, der Covid-Fälle an Schulen und dem Umsetzungsgrad von Hygiene-Konzepten. Die meisten Schulen des Landes sind in der grünen und gelben Phase (Präsenzunterricht mit Maskenpflicht, beziehungsweise Präsenz- und Online-Unterricht im Wechsel), doch an den über 260 Schulen in Rumänien in der roten Phase gibt es vorerst nur Online-Unterricht. Im östlichen EU-Land Rumänien ist die Zahl der Corona-Neuinfektionen weiterhin hoch, mehrere Regionen stehen auf der Liste der Risikogebiete des deutschen Robert-Koch-Instituts.
Die Jagd nach dem Handy-Empfang
Zum Schuljahresbeginn macht sich Matei Sorgen, dass das Internet völlig überlastet sein könnte und dann kein Online-Unterricht mehr möglich ist. Er wohnt immerhin in einer mittelgroßen Stadt, doch in einigen Dörfern Rumäniens gleicht der Handy-Empfang den Bewegungen der Donauwellen – mal stärker, mal schwächer, mal ganz still. Um zwei Stunden pro Tag am Online-Unterricht teilzunehmen, mussten Agatha und ihre Mutter jedes Mal ins Auto steigen und aus dem Dorf im Donaudelta herausfahren, in dem die Bukarester Familie einen Teil der Lockdown-Wochen verbrachte. Erst in der Nähe des Sendemasts eines großen Mobilfunk-Betreibers gelang es ihnen, ins Internet zu kommen.
Agatha geht jetzt in die neunte Klasse eines Gymnasiums mit musikalischem Schwerpunkt in Bukarest. "Gerade Musikinstrumente kann man nur in der Schule lernen, nicht online", meint Agathas Mutter. "Ich vertraue meiner Tochter, sie hat in den letzten Monaten gelernt, auf sich aufzupassen. Aber wir fürchten uns vor den Klassenkameraden, die sich für besonders mutig halten und Hygiene-Regeln ignorieren."
Agatha hat nur für eine begrenzte Zeit im ländlichen Rumänien gelebt und wird von ihrer Mutter beim Lernen unterstützt – auch mit den nötigen technischen Geräten. Rund 250.000 rumänische Schüler (von insgesamt etwa drei Millionen) haben aber keinen Zugang zu den technischen Mitteln für den Online-Unterricht, warnte das Bildungsministerium in Bukarest bereits im Mai. Damals sagte die zuständige Ministerin, Monica Anisie: "Wir müssen im Herbst auf den Online-Unterricht vorbereitet sein, damit wir nicht mehr in der Situation sind, in der wir jetzt sind."
Jede dritte Schule ohne Internet-Zugang
Doch Ende August, kurz vor Schulbeginn, zeigten die offiziellen Statistiken ein erschreckendes Bild: Jeder dritten Schule in Rumänien fehlte immer noch der Internet-Zugang. Knapp 12 Stunden vor dem Schulbeginn an diesem Montag, dem 14. September, erklärte die rumänische Bildungsministerin, vier Internet-Betreiber hätten versprochen, 2.500 Schulen ans Netz anzuschließen – beginnend mit dem 18. September.
Jahrelang haben große Mobilfunk-Betreiber ihre Netze nach rein wirtschaftlichen Interessen ausgedehnt. Kurz vor Schulbeginn fragte die DW den rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis, ob die Erweiterung dieser Netze nicht zu einem Thema für den Sicherheitsrat des Landes werden sollte. Im Kontext der Pandemie und der nationalen Risiken durch gravierende Mängel im Bildungsbereich könnte der staatliche Dienst für Sonder-Telekommunikation nützlich sein, um die Zahl der Sendemasten zu erhöhen. "Man hat schon mit den Betreibern gesprochen, sie werden ihr Bestes tun, und der Staat wird dort, wo er es kann – durch den Dienst für Sonder-Telekommunikation (STS) – mithelfen", sagte Klaus Iohannis der DW. "Die Probleme werden gelöst – Schritt für Schritt."
Doch selbst wenn der Empfang in jedem abgelegenen Dorf perfekt wäre, bleibt ein anderes Problem: Rumänien ist eines der ärmsten Länder der EU, viele Eltern können es sich einfach nicht leisten, für ihre Kinder Laptops oder Tablets zu kaufen. Zwar hat die rumänische Regierung den öffentlichen Kauf von Tablets angekündigt, die an bedürftige Kinder verteilt werden sollen. Am Abend vor dem ersten Schultag erklärte die Bildungsministerin, sie wisse aber nicht, wie es mit der Lieferung der Tablets zeitlich aussehe – sie werde "morgen" nochmal nachfragen, also am ersten Schultag. Der Finanzminister hatte vergangene Woche noch erklärt, die Lieferung der Tablets werde sich bis zum Ende des Herbstes verzögern. Doch verschiedene Quellen sagten der DW, dass auch dieser Termin viel zu optimistisch sei.
"Viel Chaos an den Schulen"
"Vieles steht nur auf dem Papier. In Wirklichkeit herrscht viel Chaos an den Schulen", beklagt Claudia Radu, die an einer Dorfschule im Süden Rumäniens unterrichtet. "Was uns fertigmacht und erschreckt, ist die Unsicherheit. Heute machen wir etwas, morgen erscheint plötzlich etwas anderes, was von uns verlangt wird." Sie ist die Klassenlehrerin von Kindern aus "verhältnismäßig wohlhabenden" Familien. "Doch von 20 Schülern haben nur 4 Laptops – und auch die teilen sie mit ihren Eltern und Geschwistern." Inzwischen dürfen die Schüler wegen der Corona-Pandemie keine Bücher mehr in der Schulbibliothek lesen und auch nichts mehr ausleihen. "Obwohl nicht einmal alle Schüler genug Schulbücher haben", fügt Claudia Radu bitter hinzu.
Lelia Mitroi, eine andere Lehrerin aus einer Schule in der südrumänischen Provinz, erzählt im DW-Gespräch: "Ich habe einen Schüler, dessen Eltern im Gefängnis sitzen. Auch viele andere wurden bei den Großeltern zurückgelassen, andere haben Eltern, die Analphabeten sind. Wer soll diesen Kindern denn zuhause helfen, mit Google Classroom zurechtzukommen – selbst wenn sie Tablets vom Staat hätten?"
Der 13-jährige Matei aus Ploiesti hat Glück: Er kommt aus einer bildungsaffinen Familie, besucht ein sehr gutes Gymnasium und hat Zugang zu den nötigen technischen Mitteln. Er hofft, dass die Corona-Krise auch zu Reformen des Bildungssystems führt. "Und es gibt Lehrer, die Lösungen finden, die uns vor den Laptops halten und unser Interesse an ihrem Fach wecken", sagt Matei. "Ich wünsche mir, dass sie uns zur Seite stehen, wenn wir Fehler machen, dass sie uns helfen, wieder aufzustehen."
Mateis Mutter ist aber weniger optimistisch. Sie kritisiert, dass sich seine Lehrer im vergangenen Semester gegenseitig übertroffen hätten mit "drakonischen Hausaufgaben", mit denen sich der Teenager täglich bis Mitternacht gequält habe, ohne aber jemals ein Feedback zu bekommen. "Aber ich vertraue meinem Kind. Ob in der Klasse oder online – Matei wird immer sein Bestes tun. Auch wenn er wieder bis Mitternacht an den Hausaufgaben sitzt und gleichzeitig versucht, noch Sport zu treiben und all das zu lernen, was er für sein späteres Leben braucht." Sie könne sich vorstellen, dass Matei eines Tages ins Ausland geht – wie Hunderttausende hochqualifizierte junge Rumänen, die vom eigenen Land enttäuscht sind: "Weit weg von mir, an einen anderen Ort, wo er für seine harte Arbeit angemessen belohnt wird. Und dann werde ich viel weinen..."
Adaption aus dem Rumänischen: Dana Alexandra Scherle