Lebensgefährliches Roofing
18. August 2015Die Stahlseile der über 300 Meter hohen Russki-Brücke in Wladiwostok hochzuklettern, bezeichnet der 20-jährige Artjom Monachow aus Moskau als eines seiner bisher besten Erlebnisse. Auch die Dächer der Paläste in St. Petersburg hat der leidenschaftliche Roofer und professionelle Fotograf schon erklommen und er hat seine Füße von den Wolkenkratzern im Stadtteil Moskau City der russischen Hauptstadt baumeln lassen. Diese Perspektive gefällt ihm - sein Blick reicht dann über das komplette Zentrum, und die Fahrzeuge auf den Straßen scheinen nur noch so groß wie Spielzeugautos.
Roofing heißt das Phänomen, das man auch als eine Art von Extremsport bezeichnen könnte. Es ist besonders populär in Russland und der Ukraine. Der Ursprung des Wortes ist der englische Begriff roofing für Überdachung. Beim Roofing klettern junge Leute ungesichert auf hohe Bauwerke, Brücken, Wolkenkratzer oder Kirchentürme, machen dort Fotos oder Videos von sich und veröffentlichen sie dann in sozialen Netzwerken. Gleichzeitig ist das eine riskante Aktion - es besteht ständig die Gefahr abzustürzen. Doch genau das sei für manche Leute das Attraktive am Roofing, sagt der Sportpsychologe Sebastian Reinold: "Was den Reiz ausmacht, ist das Spiel mit dem Tod."
Gemeinschaft im Netz
Der Trend des sogenannten Roofings kommt aus Russland, wo es eine große Community gibt, in der sich junge Menschen besonders über soziale Netzwerke zusammenschließen. Der Sommer ist die Hauptsaison der Kletterer. Bei Facebook, Instagram und auch dem vielgenutzten VKontakte, dem russischsprachigen Pendant zu Facebook, sind täglich neue Fotos oder Videos zu finden, auf denen die russischen Roofer sowohl die atemberaubenden Ausblicke von riesigen Hochhäusern als auch ihre Waghalsigkeit dokumentieren - nichts für Leute mit schwachen Nerven oder mit Höhenangst. Viele der Roofer haben eine große Fangemeinde im Netz. Das ist ein Ansporn für die Kletterer, frei nach dem Motto: immer höher, immer weiter.
Das Roofing ist Teil des Phänomens der sogenannten Urban Exploration oder Stadtentdeckung, also der privaten Erforschung des städtischen Raumes. In Russland gibt es in Städten wie Moskau oder St. Petersburg besonders viele hohe Gebäude, von denen aus die Kletterer faszinierende Aussichten über sehr weite Entfernungen genießen können. In der Ukraine gilt dasselbe für Kiew. Im russischsprachigen Netzwerk VKontakte hat die Gruppe Rufery (Roofer) mehr als 18.000 Mitglieder, darunter sind sowohl viele Sympathisanten der Szene als auch die Kletterer selbst. Gleichzeitig gibt es in mehreren großen russischen Städten lokale Communitys mit tausenden von Mitgliedern. Der Gefahr sind sich die Gruppen dabei bewusst: Sie warnen mit "Achtung, gefährlich" oder fügen "18+" in ihren Gruppennamen ein.
"Die Gefahr verfolgt uns ständig", schreibt Artjom und setzt einen lächelnden Smiley dazu - er findet Gefallen am Risiko. Aber der Nervenkitzel ist nicht das einzige, worum es Artjom bei seinen waghalsigen Extremklettertouren geht. Die Fotos des 20-Jährigen sind nicht nur ein Beleg dafür, dass er ein bestimmtes Hochhaus erfolgreich bezwungen hat. Sie sind etwas besonderes und seltenes und sie sind schön - es sind kleine Kunstwerke. "Ich mache das einfach, weil es mir gefällt", sagt Artjom ganz unbeeindruckt von der Lebensgefahr durch sein Hobby. "Adrenalin, die Fotos und die Beliebtheit, das gehört einfach dazu."
Über 80.000 Menschen haben Artjoms Instagram-Account bisher abonniert. Das ist zwar viel, es geht aber noch mehr: Der Russe Vadim Makhorov und der Ukrainer Vitaly Raskalov sind bereits weltweit bekannt mit ihrem Blog "On the roofs". Ihr größter Coup bisher: Im Mai dieses Jahres erklommen die beiden den 660 Meter hohen Shanghai-Tower in der chinesischen Stadt Shenzhen, den zweithöchsten Wolkenkratzer der Welt. Das Video dazu wurde im Internet über 44 Millionen Mal angeschaut. Auch diese beiden Roofer haben ihre Karriere in Russland und der Ukraine gestartet.
Keine Gesellschaftskritik
In der Regel sind die Roofer unpolitisch, mit ihren waghalsigen Kletteraktionen üben sie keinerlei Kritik an der Gesellschaft. "Deswegen wird das Roofing toleriert", sagt der Kultursoziologe Christian Fröhlich der DW. Die einzige bekanntere Ausnahme ist die patriotische Aktion des ukrainischen Roofers Mustang Wanted, der im August 2014 einen Stern auf einem Moskauer Hochhaus in den Farben blau und gelb bemalte und eine ukrainische Flagge an die Spitze setzte. Für die ansonsten unpolitische Szene "war es das Schlimmste, was ihr passieren konnte", meint Fröhlich. Denn dadurch erst seien die Roofer wirklich sichtbar für die Sicherheitsorgane geworden. Derzeit läuft in Moskau ein Gerichtsverfahren gegen fünf junge Russen, die bei der Aktion des Ukrainers festgenommen wurden. Die Angeklagten leugnen aber die ihnen vorgeworfenen politischen Motive.
Das ist allerdings noch eine Ausnahme. Der russische Extremkletterer Alexej Strokolis erzählt, dass es in Russland keine Strafen für Roofer gebe. Nur die Zugänge zu den Dächern seien natürlich gesperrt und es gebe einen Paragraphen über "das Eindringen in ein bewachtes Gebiet", für das man laut Strokolis nur 300 Rubel (rund vier Euro) bezahlen müsse. In Deutschland ist das anders, so der Kultursoziologe Fröhlich. Dort bekäme ein Roofer eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch, der mit einer höheren Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden könne.
Um die Vorschriften, die es in Russland gibt, kümmert sich ohnehin kaum jemand: "Die Sicherheitsmaßnahmen sind lockerer und bestimmte Gesetze werden einfach nicht ernst genommen", sagt Christine Grillborzer vom Slawischen Seminar der Universität Freiburg.
Roofer Artjom Monachow wünscht sich stattdessen klare Gesetze, die ihm vor allem fürs Fotografieren und Filmen einen legalen Zugang zu den Dächern ermöglichen. Auf sie zu warten, hat er jedoch keine Lust. Erst neulich war Artjom wieder in schwindelerregender Höhe auf Moskaus Hochhäusern unterwegs. Inzwischen können seine Fans neue Fotos von seinem schwindelerregnden Spaziergang im Internet bewundern.