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Romani Rose: "Antiziganismus darf nicht toleriert werden"

2. August 2024

Anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktags für Sinti und Roma am 2. August sagt Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, der DW, dass Auschwitz Europa zu Menschlichkeit verpflichte.

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Ein Mann in Anzug (Romani Rose) im Porträt
Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und RomaBild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma / Jarosław Praszkiewicz

Romani Rose, Jahrgang 1946, wurde in einer Sinti-Familie geboren, die aus Schlesien stammte. Vieler seiner Familienangehörigen wurden in Auschwitz und anderen deutschen NS-Vernichtungslagern ermordet. Rose setzt sich seit den 1970er Jahren für die Rechte von Sinti und Roma und für eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen und des Völkermordes an Sinti und Roma ein. Er ist seit 1982 Vorsitzender des von ihm mitbegründeten Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktags für Sinti und Roma - im Jahr 2024 der 80. Jahrestag der so genannten "Auflösung des Zigeunerlagers" Auschwitz-Birkenau, bei der in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 tausende Sinti und Roma ermordet wurden - sprach die DW mit Romani Rose.

DW: Herr Rose, das Gedenken an den Völkermord an den Roma und Sinti findet jedes Jahr am 2. August in Auschwitz statt, an einem Ort, an dem viele Ihrer Familienmitglieder ermordet wurden, unter anderem Ihre Großeltern. Es ist ein Ort, der auch dafür gemacht wurde, damit Sie persönlich gar nicht erst geboren werden. Was empfinden Sie, wenn Sie an diesem Ort sind?

Romani Rose: Ich habe natürlich das Bewusstsein, dass Auschwitz der Ort ist, an dem meine Großeltern ermordet worden sind. Aus meiner Familie sind insgesamt 13 Personen ermordet worden, nicht nur in Auschwitz, sondern auch in anderen Konzentrationslagern wie Dachau oder Bergen-Belsen. Für mich ist Auschwitz ein großer Friedhof, aber ich denke auch daran, dass Auschwitz eine Verpflichtung für heute, für unsere Zeit ist. Das sind wir dem Vermächtnis der Opfer schuldig.

Welche Verpflichtung meinen Sie konkret?

Wir haben einen neuen Nationalismus, einen neuen Rechtsextremismus, und diese Leute fordern wieder Sündenböcke. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen. Ich denke aber auch an Situationen, in denen Menschen ertrinken, weil ihre Boote untergehen, und wir darüber verhandeln, dass diese Menschen nicht vor unser Angesicht treten. Ich finde das schlimm. Mir ist klar, dass ein einzelner Staat das Problem nicht lösen kann. Das kann nur die europäische Gemeinschaft zusammen tun. Aber es geht um unsere Grundwerte. Sie sind das Fundament unseres Zusammenlebens. Darauf waren wir in Europa immer stolz. Wenn wir die jetzt nicht mehr verteidigen, dann steht es um die Menschlichkeit schlecht.

Eine Gruppe von Menschen geht durch ein Eingangstor (das Tor in Auschwitz)
Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma am 2.08.2022 in Auschwitz, im Bild unter anderem Romani Rose (3.v.r)Bild: Staatskanzlei Thüringen/dpa/picture alliance

Ist der Völkermord an den Roma und Sinti heute im Bewusstsein der Mehrheit der deutschen Gesellschaft als Verbrechen so präsent, wie es der Holocaust ist?

Nein, das glaube ich nicht. Es gibt dieses Bewusstsein nicht, dass der Holocaust auch die Ermordung von 500.000 Sinti und Roma in Deutschland und im von den Nationalsozialisten besetzten Europa bedeutet. Auf der politischen Ebene ist in Deutschland viel geschehen in den vergangenen Jahrzehnten. Aber die breite Bevölkerung haben wir nicht ausreichend erreicht. Da muss mehr geschehen. Allerdings muss auch klar sein: Der Rassismus, der Antiziganismus ist nicht unser Problem, es ist das Problem der Mehrheitsgesellschaft.

Von der deutschen Politik ist der Völkermord an den Roma und Sinti jahrzehntelang geleugnet, ignoriert oder stark relativiert worden. Das hat sich erst in den vergangenen Jahren geändert. Ist das offizielle Gedenken heute würdig und respektvoll?

Wenn mir jemand vor 40 Jahren gesagt hätte, wo wir heute stehen, dann hätte ich das damals nicht für möglich gehalten. Auf der politischen Ebene in Deutschland ist viel geschehen. Deutschland gilt in Bezug auf unsere Minderheit als Vorbild. Wir sind heute eine nationale Minderheit neben den Dänen, Friesen und Sorben. Es gibt in Berlin direkt am Brandenburger Tor das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas, und wir haben heute in Deutschland einen Antiziganismus-Beauftragten, der sich mit dem Phänomen des Antiziganismus auseinandersetzt, so, wie wir einen Antisemitismus-Beauftragten haben. Aber, wie gesagt, wir müssen noch mehr Menschen in der breiten Bevölkerung erreichen.

Ein Mann mit einem Manuskript in der Hand (Romani Rose) hinter einem Mikrofon
Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, spricht am 2.08.2022 in Auschwitz-Birkenau anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktags für Sinti und RomaBild: Staatskanzlei Thüringen/dpa/picture alliance

Wie kann das geschehen?

Wir müssen die Bevölkerung darüber informieren, dass Minderheiten immer die ersten Opfer eines Wahnsinns sind, wie es die nationalsozialistische Ideologie war. Heute wissen wir, dass schließlich ganz Europa von diesem Wahnsinn betroffen war, dass Leute glaubten, sie könnten als Herrenmenschen Europa unterjochen. Das hat damals nicht funktioniert. Von 1000 Jahren waren es nur zwölf Jahre. Wir wissen heute um die Geschichte, wir wissen, wie es angefangen hat, und wir wissen, wo es endete. Es wird auch in Zukunft nicht funktionieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die beiden deutschen Staaten in Bezug auf den Völkermord an Roma und Sinti eine zweite Schuld auf sich geladen. So gut wie niemand der Täter wurde für die Vernichtung von Roma und Sinti verurteilt. Denken Sie, es sollte so etwas geben wie eine nachträgliche Aufhebung von Urteilen oder nachträgliche Schuldsprüche?

Das bringt niemanden etwas. Diese Dinge liegen lange zurück. Wichtig ist, dass es ein Bewusstsein für die Vergangenheit gibt. Zum Beispiel, wenn viele Leute sich im Kino die Filme über Auschwitz ansehen. Aber die Verantwortung besteht jetzt in der Gegenwart, und da brauchen wir unsere Justiz, da brauchen wir Gerechtigkeit. Antiziganismus ist genauso zu ächten wie Antisemitismus. Wer das eine toleriert und das andere verurteilt, ist in seiner Handlungsweise nicht glaubwürdig.

Eine Frau (Elke Büdenbender) und zwei Männer (Frank-Walter Steinmeier und Romani Rose) im Porträt
Romani Rose (re.), hier mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Mi.) und dessen Ehefrau Elke Büdenbender, am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas in BerlinBild: Soeren Stache/dpa/picture alliance

Denken Sie da beispielsweise an den Begriff "Sozialtourismus", den Politiker der politischen Mitte seit einigen Jahren wieder gebrauchen und der sich ja ursprünglich gegen geflüchtete Roma aus Rumänien und Bulgarien richtete?

Ja, und genau das kennen wir aus der Geschichte. Solche Begriffe werden verwendet, um Gruppen von Menschen populistisch in den Fokus zu stellen, von denen man den wenigsten Widerstand erwartet. Dem widersprechen wir heute mit einer Mehrheit der Gesellschaft, die Demokratie und Rechtstaatlichkeit verteidigt. In der Vergangenheit waren wir diesem ekelhaften, abscheulichen Antiziganismus ausgesetzt. Das werden wir heute nicht mehr hinnehmen.

Sie sind seit fast 50 Jahren im Kampf um Bürgerrechte aktiv. Wenn Sie zurückblicken, sehen Sie dann eher die positiven Veränderungen? Oder gibt es auch etwas, wovon Sie sagen würden, darin sind wir bisher gescheitert?

Was ich aus heutiger Sicht für wichtig erachte, ist, dass wir den Antiziganismus nicht mehr akzeptieren, dass wir uns dagegen zur Wehr setzen können und dass es in der Gesellschaft und in der Politik eine Menge Leute gibt, die das gemeinsam mit uns verurteilen. Es wird sich nicht von heute auf morgen alles verändern, alles ist ein Prozess. Ich möchte betonen, dass es uns nicht darum geht, Sonderrechte für uns durchzusetzen, sondern um gleiche Rechte. Wenn wir auch nach 600 Jahren nicht das Recht haben werden, in diesem Land dazu zu gehören, zu dem wir immer auch mit unserem Patriotismus gestanden haben, denn unsere Großväter waren ja auch Soldaten im Ersten Weltkrieg für Deutschland, ja, dann wird es dieses Land nie schaffen. Dann hat das Land mit sich selbst ein Problem.

Das Gespräch mit Romani Rose führte Keno Verseck.

Porträt eines lächelnden Mannes mit Brille und blonden Locken
Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter