Mythos Rolling Stones
11. Juli 2012"Wuschel ging nicht zur Tanzschule. So was interessierte ihn nicht. Wuschel interessierte sich auch für sonst nichts, außer für Musik. Und für Musik interessierte er sich auch nur dann, wenn sie von den Rolling Stones war. Während die anderen vom Platz zur Tanzschule gingen, versuchte er, die Exile on Main Street, das 72er Doppelalbum der Rolling Stones aufzutreiben."
Wuschel ist einer der Helden aus dem 1999 erschienenen Roman „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Autor Thomas Brussig beschreibt in dem Buch den Alltag einer Gruppe Jugendlicher in der DDR der späten Siebziger. Die ersehnte Musik aus dem Westen war offiziell verpönt, die Platten nur zu horrenden Schwarzmarktpreisen zu kriegen. Umso beliebter war sie bei den Jugendlichen. Doch die "Beatmusik" war offiziell als "subversiv" eingestuft, die Regierenden in der DDR fürchteten sich vor der vermeintlich aufrührerischen Wirkung des Rock 'n'Roll. Walter Ulbricht, von 1950 bis 1971 Chef des Zentralkomitees der DDR und damit ihr mächtigster Politiker, drückte es so aus: "Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nun kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen."
"Rolling Stones" nur über Westsender zu hören
Radiomoderator Günther Schneidewind, Jahrgang 1953, ist trotzdem mit dem "Je - je - je“ aufgewachsen. Er war Moderator beim DDR-Jugendsender "DT64", der ab und zu auch westliche Musik spielen durfte - allerdings nicht jede. Noch bis 1982 standen die Rolling Stones offiziell auf dem Index. Die einzige Möglichkeit die Band zu hören, war, heimlich Westsender zu verfolgen und Sendungen mitzuschneiden. "Die Stones hatten lange Haare, machten übermäßig laute Musik und verdienten damit auch noch eine Menge Geld - das war klar, dass die von den Jugendlichen idealisiert wurden", sagt Schneidewind. "Die Jugend-Ideale, die in der DDR zu gelten hatten, fußten auf der sozialistischen Moral und Ethik und hingen in jedem Klassenzimmer. Das war komplett entgegengesetzt zu dem, was die Stones da produzierten. Man sah eine echte Gefahr, dass die Jugendlichen rebellisch würden."
Tatsächlich verfehlten die Stones nicht ihre Wirkung. Viele Jugendliche in der DDR waren fasziniert von der Art, wie Jagger, Richards und Co. sich gaben. "Die haben eine Aufbruchstimmung bedient, wie sie bis dato in der Nachkriegszeit beispiellos war. Dinge, die in der Schule und staatlichen Gremien gepredigt wurden, wurden über Bord geworfen", erinnert sich Schneidewind. 1968, im Jahr der Studentenunruhen in den USA und Westeuropa, wurden auch die Texte der Rolling Stones zunehmend politisch. Bestes Beispiel, der Song "Street fighting man", in dem sich die Gruppe aber von Gewalt distanzierte und textete: "What can a poor boy do, except to sing for a rock 'n' roll band" - was bleibt also, außer in einer Band zu singen? "Auch dies wurde von den DDR-Herrschenden verurteilt", sagt Schneidewind. "Die Durchsetzung der Weltrevolution - damit war in der DDR doch der Kampf mit der Waffe in der Hand gemeint! Und so hat man die Stones oder die Beatles plötzlich als Pazifisten bezeichnet und gesagt: 'Das ist nicht in unserem Sinne, das ist ideologiefeindlich, Punkt, Ende.'"
Ein Gerücht mit Folgen
1969 verbreitete sich eine Nachricht in Ostberlin wie ein Lauffeuer: Die Rolling Stones sollten am 7. Oktober 1969, dem 20. Jahrestag der DDR, auf dem Hochhaus des Springer-Verlages in Westberlin, in Sichtweite der Mauer, spielen. Völlig absurd war der Gedanke nicht - schließlich hatten erst wenige Monate zuvor die Beatles ein Konzert auf dem Dach ihres eigenen Plattenlabels in der Londoner Innenstadt gegeben und damit ein Verkehrschaos ausgelöst. Hunderte Stones-Fans aus der DDR pilgerten also am 7. Oktober an die Mauer, um ihre Idole zu sehen. Auch die Volkspolizei der DDR war in heller Aufregung, riegelte die Gegend an der Grenze am Nachmittag ab. Einzig: Die Rolling Stones selbst wussten nichts von dem Konzert. Der "Termin" war von einem Redakteur des westberlinischen Sender "RIAS" frei erfunden worden - ein Scherz, der bei den Hörern im Ostteil der Stadt eine starke Eigendynamik entwickelt hatte.
Das Signal war aber klar: Es gab sie, die Rock 'n' Roll-Fans in der DDR, und sie waren nicht bereit, sich zu verstecken. Im Laufe der kommenden Jahre kam es von Seiten der Regierung dann auch zu einer Aufweichung der strengen Regeln gegenüber Musik aus dem Westen. 1982 erschien sogar eine LP mit ausgewählten Liedern der Rolling Stones auf dem volkseigenen Label AMIGA. Im August 1990 dann, bereits nach der "Wende", war es soweit: Am 13. und 14. August spielten die Rolling Stones ihre beiden ersten und einzigen Konzerte in der DDR. "Das war dann natürlich auch ein Signal: Jetzt ist die politische Entwicklung unumkehrbar. Wenn sogar die Rolling Stones bis auf das Gebiet der DDR vorgedrungen sind, dann kann man das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen", beschreibt Schneidewind die damalige Stimmung.
Rock-Musik als Motor der Wende
Für viele DDR-Bürger war es auch die Sehnsucht nach westlicher Musik, die den Freiheitsdrang beflügelte. "Die Leute wurden ja in den Bann gezogen von dem, was die Stones machten. Man beschäftigte sich mit den Texten von Jagger und seinem literarischen Hintergrund und fragte sich, was da eigentlich dahintersteckt. Da hat man dann jenseits von Engels und Marx mal gesucht, wo denn die philosophischen Ideale herkamen", so Schneidewind. Ob die Rolling Stones und andere Westbands zum Mauerfall beitrugen? Günter Schneidewind ist sich da sicher: "Viele sagen ja, Kunst könne keine gesellschaftlichen Veränderungen herbeiführen. Ich finde aber schon, dass das so ist!"
Wuschel, der Held aus der Sonnenallee, musste auf seine "Exile on Main Street" allerdings noch einige Jahre warten. Zwar gelingt es ihm im Roman, die Platte zu besorgen. Bei einem Ausflug in den Mauerstreifen wird er dann jedoch von Grenzsoldaten beschossen. Wuschel, der die LP unter der Jacke versteckt hat, bleibt unversehrt: Die Kugel prallt an der "Exile on Main Street" ab. Die Platte geht kaputt - aber dem Stones-Fan aus der DDR rettet sie das Leben.