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Rheingau Musik Festival: Klassik mit Nationalkolorit

Gaby Reucher
24. Juni 2024

Klassische Musik aus Tschechien, Nigeria oder Brasilien: Das Rheingau Musik Festival stellt Werke mit Nationalkolorit auch aus fernen Ländern vor. Diversität wird dabei großgeschrieben.

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Dirigent und Geiger stehen vor dem Orchester und reißen die Arme hoch.
Zwei, die mit Leidenschaft musizieren: Geiger Christian Tetzlaff und Dirigent Alain AltinogluBild: Ansgar Klostermann

Friedrich Smetana und Antonin Dvořák: Beide waren berühmte tschechische Nationalkomponisten, die in ihre klassisch-romantischen Werke auch Motive aus der Volksmusik ihrer Heimat verwoben haben. "Má Vlast" (Mein Vaterland) von Smetana ist eine Hommage an Tschechien. Weltbekannt daraus "Die Moldau": der Fluss, der sich von einem Rinnsal aus der Quelle über Stromschnellen aufbaut, hin zu einem großen Fluss, der dann in die Elbe mündet. Musikalisch mit vollem Klangkörper überzeugend und berauschend dargeboten vom Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks, das jedes Jahr das Rheingau Musik Festival eröffnet.

Wenn der armenisch-stämmige französische Chefdirigent des Orchesters, Alain Altinoglu, Musik aus anderen Ländern spielt, versucht er, den Charakter der Leute und ihrer Musik aufzugreifen. "Die Tschechen sind sehr großzügig, aber auch pessimistisch. Das spürt man in der Musik", meint Altinoglu. "Da ist auch eine gewisse Einfachheit, und ich versuche, das in meine Interpretation aufzunehmen."

Das Publikum war begeistert von dieser Interpretation. Besonders gefeiert wurde der Star-Geiger Christian Tetzlaff, der mit dem Orchester als Solist geradezu charismatisch und voller Elan Dvořáks Konzert für Violine und Orchester Opus 53 präsentierte.

Junge Künstler: die Stars von morgen

Das Rheingau Musik Festival ist bekannt dafür, sowohl Stars als auch talentierte  Newcomer auf die Bühne zu holen. Gegründet 1987, ist es eins der wichtigsten Festivals Europas - hauptsächlich für Klassik, aber auch für Pop, Jazz und Weltmusik. In diesem Jahr stehen bis zum 7. September 155 Konzerte an 25 Spielorten in den Weinbergen des Rheingaus auf dem Programm. Programmdirektor Timo Buckow hat ein besonders Händchen bei der Auswahl der Künstlerinnen und Künstler.

Ein Mann sitzt am Flügel, hinter ihm das Orchester.
Shootingstar Bruce Liu begeistert am Eröffnungswochenende mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 5Bild: Ansgar Klostermann

Die junge russische Cellistin Anastasia Kobekina, die auch Dvořáks Cellokonzert spielen wird, ist durch das Rheingau Musik Festival einem breiteren Publikum in Deutschland bekannt geworden. Sie lebt mittlerweile in Deutschland und studiert an der renommierten Kronberg Akademie für hochbegabte Musikerinnen und Musiker.

2022 hat Buckow den jungen chinesisch-kanadischen Pianisten Bruce Liu für das Festival entdeckt, der in diesem Jahr - ebenso wie Kobekina - gleich in mehreren Konzerten sein Talent als Shootingstar zeigt.

Diversität ist ein großes Thema

Es geht aber nicht nur um die Auswahl der Stars. "Man muss auch gucken, was an gesellschaftlichen Themen gerade im Vordergrund steht", sagt Buckow. Im Moment sei Diversität ein großes Thema. "Da ist es für uns ein Anliegen auch neue Musik in dieser Hinsicht zu entdecken."

Eine Frau grüßt mit einer Hand in die Kamera und hält ein Cello im Arm.
Die Cellistin Anastasia Kobekina ist neben Bruce Liu Fokuskünstlerin beim Rheingau Musik FestivalBild: Jane Petrova

Die Macher des Festivals wagen in diesem Jahr erstmals das Experiment, in sogenannten "Diversitätskonzerten" Klassik mit Heimatklängen aus fernen Ländern zu mischen.

Das "Chineke! Orchestra" kommt mit People of Colour 

Die Kontrabassistin Chi-chi Nwanoku wurde 1957 in London als Tochter einer Irin und eines Nigerianers geboren. Als sie 2014 für eine Untersuchung des britischen Kulturministeriums gefragt wurde, warum so wenige schwarze Musikerinnen und Musiker auf internationalen Bühnen zu sehen seien, nahm sie das zum Anlass, 2015 das "Chineke!-Orchester" zu gründen, ausschließlich mit People of Colour. "Chineke" heißt so viel wie "Gott, Schöpfer der Welt und des Guten" in der Igbo-Sprache, die von rund 18 Millionen Nigerianerinnen und Nigerianern gesprochen wird.

Orchester mit Musikern dunkler Hautfarbe sitzt auf der Bühne.
Bei den meisten klassischen Orchestern sieht man wenige Schwarze: Bei "Chineke" sind alle "People of Color"Bild: Eduardus Lee

Im Programm beim Rheingau Musik Festival hat Chi-chi Nwanoku vor allem Stücke von zeitgenössischen Komponisten und Komponistinnen afrikanischer Abstammung dabei. Etwa die "African Suite" des nigerianischen Komponisten Olufęlá Şowándé, der als Begründer der nigerianischen Kunstmusik im 20. Jahrhundert gilt. Außerdem das "Handpan Concerto", das Konzert für Handtrommel von der jungen britischen Jazzmusikerin Cassie Kinoshi, die erst seit kurzem in Berlin lebt.

"Nwanoku verfolgt da auch einen feministischen Ansatz. Es ist quasi ein Diversitätsprojekt auf vielen Ebenen", sagt Buckow. Er hat das Orchester ganz bewusst ins Programm genommen. "Auch wenn wir wissen, dass ganz neue Musik abseits des gängigen Repertoires für unser Publikum etwas schwierig ist." Nicht zuletzt deshalb spielt das Orchester in seinem Konzert auch noch "Die vier Jahreszeiten" des bekannten barocken Komponisten Antonio Vivaldi, allerdings bearbeitet von Max Richter, mit Orchester- und elektronischen Klängen.

Eine Frau sitzt vor einer Wand mit Graffiti und spielt eine Handpan aus Metall.
Die Handtrommel spielt beim Chineke-Konzert im Rheingau eine große RolleBild: Bill Knight

Friedenstiftende Zusammenarbeit

Das Thema Diversität zeigt sich in diesem Jahr beim Festival besonders durch die internationale Herkunft. Zu den sogenannten "Diversitätskonzerten" beim Rheingau Musik-Festival gehört neben dem Auftritt des Chineke!-Orchesters auch der Auftritt des etablierten West-Eastern Divan Orchestras, in dem Israelis und Palästinenser gemeinsam musizieren. Daniel Barenboim, Mitbegründer des Ensembles, wird das Konzert im August selbst dirigieren, Solistin ist die berühmten Geigerin Anne-Sophie Mutter.

Dirigent Daniel Barenboim dirigiert. Im Vordergrund die Geiger des Orchesters von hinten.
Daniel Barenboim mit seinem East-Western Divan Orchestra, das für ein friedliches Miteinander zwischen Israelis und Palästinensern stehtBild: Monika Ritterhaus

Ein Konzert mit Starbesetzung und einer Friedensbotschaft. "Dieses gemeinsame Musizieren von Israelis und Palästinensern ist gerade in der jetzigen Situation politisch besonders relevant", sagt der Geschäftsführer des Rheingau Musik Festivals, Marsilius Graf von Ingelheim.

Ebenfalls in der Reihe der Diversitätskonzerte stehen der World Youth Choir und das Bundesjugendorchester, die Beethovens Neunte Sinfonie unter der Leitung des chinesischen Dirigenten und Komponisten Tan Dun aufführen. Ein Werk, das Beethoven vor 200 Jahren schrieb und das für den Wunsch nach Frieden und Freiheit aller Völker steht. Als Uraufführung wird auch Tan Duns "Nine" in Anlehnung an Beethovens 9. gespielt. Tan Dun geht mit seinem Werk und den beiden Ensembles auf Tournee. Die DW wird das Konzert im September im Zuge des Beethovenfestes streamen.

Länderschwerpunkt Brasilien: Bach meets Samba

Dass es beim Festival in diesem Jahr einen brasilianischen Länderschwerpunkt gibt, liegt nicht zuletzt an dem heute 18-jährigen Geiger Guido Sant'Anna aus São Paulo. Timo Buckow hatte ihn 2022 gleich nach einem Geigenwettbewerb für das Rheingau Musikfestival 2023 engagiert. Auch in diesem Jahr ist er mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen dabei.

Guido Sant´Anna spielt Geige
Guido Sant'Anna trat 2023 das erste Mal in Deutschland beim Rheingau Musik Festival aufBild: Caue Diniz

Sant'Anna ist in seiner Heimat bereits mit mehreren brasilianischen Ensembles aufgetreten, darunter mit dem São Paulo Symphony Orchestra, das in diesem Jahr mit einer großen Tournee sein 70. Jubiläum feiert und dabei auch im Rheingau zu Gast ist. Auch das Orchester hat Musik aus der Heimat im Gepäck, nämlich die "Suite Vila Rica" von Camargo Guarnieri, der in seinen klassischen Werken die brasilianische Folklore bekannt machte.

Einen Schritt weiter geht der deutsche Geiger Linus Roth mit seinem Projekt „SamBach". Zusammen mit dem "Orquestra Johann Sebastian Rio" kombiniert er Werke des barocken Komponisten Johann Sebastian Bach mit brasilianischer Musik. Beim Rheingau Musik Festival spielt er ein klassisches Violinkonzert von Johann Sebastian Bach, gepaart mit Musik von Heitor Villa-Lobos, aber auch mit Werken von Größen aus der brasilianischen Bossa-Nova-Szene wie Antônio Carlos Jobim oder Noel Rosa, der den Samba prägte.

Solche gemischten Projekte, gerade mit südländischer Musik, trügen dazu bei, den Zugang zu klassischer Musik zu erleichtern, sagt Geschäftsführer Marsilius Graf von Ingelheim: "Bei unserem Festival öffnen sich auch Personen klassischer Musik, die bei alteingesessenen Strukturen wie Konzerthäusern eine Hemmschwelle haben."