Reichert: "Woolfs Figuren erfinden sich selbst"
13. Oktober 2014DW: Herr Reichert, insgesamt 25 Jahre lang haben Sie die Texte von Virginia Woolf ediert, in ihren Tagebüchern geforscht, ihre Aufsätze und literarischen Texte studiert. Jetzt ist die Arbeit beendet – fallen Sie jetzt in ein Loch?
Klaus Reichert: Ich habe die Texte ja relativ langsam ediert, so ungefähr einen Band pro Jahr, und konnte deshalb relativ viel nebenbei machen. Ich habe viele Projekte, die liegen geblieben sind, weil ich an ihnen nicht konstant weiterarbeiten konnte. Also, ich falle in kein Loch.
27 Bände umfasst das Gesamtwerk von Virginia Woolf. Was war die größte Herausforderung für Sie als Herausgeber?
Ein großes Problem war, dass es keine kommentierten Ausgaben der Romane gibt. Virginia Woolf zitiert sehr häufig, aber sie gibt nie an, woher etwas stammt. Da muss man sich dann umtun, ob man das rauskriegen kann. Oder zum Beispiel in ihrem ersten Roman: Da ist die Heldin eine Pianistin auf Seereise, die ständig Beethoven übt und das Klavierstück wird genau beschrieben. Da ist die Rede von Opus 112. Mir war aber klar, sie meint Opus 111 – aber darf ich das verbessern? Nein. Später schreibt sie in einem Brief: "Man hat mir gesagt, es müsse sich doch um Opus 111 handeln, aber ich lasse es stehen." Und dann habe ich nachgeschaut und es gibt ein Opus 112 von Beethoven, eine Kantate namens 'Meeresstille und glückliche Fahrt'. Also, das Falsche ist dann doch wieder richtig. So ist das bei großen Autoren: Man kann nicht einfach etwas ändern, weil hinter der Aussage meist doch etwas steckt.
Bei solchen Fragen hilft auch kein Google.
Ich habe das Projekt begonnen, als es Google noch gar nicht gab. Die ersten Bände sind 1989 erschienen, und ich musste alles irgendwie selber herauskriegen. Manchmal findet man nichts, da habe ich dann auch immer eine Anmerkung gemacht: 'Ich weiß es nicht' - in der Hoffnung, dass ein Leser sich meldet. Aber ich habe nie eine Leserzuschrift bekommen.
Was ist das Besondere an den Werken von Virginia Woolf?
Das Neue an ihren Romanen ist, dass sie von ihren Figuren gar nichts weiß. Dass sie die Figuren sich quasi selbst erfinden lässt. Sie sieht jemanden im Zug - eine unbekannte Frau -, beschreibt sie und zieht Schlüsse aus ihrem äußeren Erscheinungsbild, also aus der Opulenz oder Schäbigkeit des Mantels, ob die Handschuhe geflickt sind oder neu. Wolle oder Leder. So "stückt" sie sich ihre Figuren zusammen. Es gibt bei ihr keine Handlung, die man groß nacherzählen könnte. Nehmen wir zum Beispiel den Roman "Mrs. Dalloway". Da passiert nicht viel: Mrs. Dalloway bereitet eine Party vor, und abends findet die Party statt. Aber das Besondere ist, wie sie die Figuren zeichnet.
Was hat Sie bei der langen Arbeit am meisten überrascht?
Jedes Mal, wenn ich angefangen habe, einen neuen Band zu edieren, dachte ich: Was ist das für eine gute Schriftstellerin, die einen vom ersten Satz an packt und in die Geschichte zieht. Man muss von Satz zu Satz aufpassen, was da passiert. Mit den teilweise sehr langen Sätzen ist es ein langwieriger Prozess, ihr auf die Schliche zu kommen. Das war auch das Problem mit früheren Virginia Woolf-Übersetzungen. Früher dachte man, man müsse das in abgeschlossene, kleinere Satzpartien einteilen. Aber der Witz ist ja, dass sie diese langen Bögen führt, bei denen sie von einem Bewusstsein in ein anderes geht und dann wieder zum ersten zurückkehrt. Was auch auffällt, ist ihr übermäßiger Gebrauch des Semikolons, was im Englischen unüblich ist. Dann bin ich darauf gekommen, dass sie Griechisch gelernt hat und dass ein Semikolon im Griechischen ein Fragezeichen ist. Das heißt, in diesen ganz, ganz langen Sätzen, die sie schreibt, ist es wahrscheinlich ihre List, bestimmte Dinge gleichzeitig auch in Frage zu stellen.
Mit der Gesamtedition sind auch erstmals Woolfs Tagebücher auf Deutsch übersetzt worden. Die Schriftstellerin litt Zeit ihres Lebens immer wieder an seelischen Krisen. War das Tagebuchschreiben auch so etwas wie eine Therapie für Sie?
Sie hatte die Tagebücher mit der Absicht geschrieben, irgendwann eine Autobiographie zu schreiben, zu der es dann nie kam. Aber ich glaube, dass die Tagebücher in der Tat eine Therapie gewesen sind. Wenn Sie mal zusammenzählen, was diese Frau alles geschrieben hat in ihrem doch relativ kurzen Leben: Das sind neun Romane, ein dicker Band mit Erzählungen, etwa 400 Essays, sechs Bände Briefe und fünf dicke Bände Tagebücher. Ich glaube, sie hat gedacht, solange sie schreibt, ist sie nicht verrückt. Und als sie sich dann schließlich doch umbrachte, schrieb sie in ihrem Brief an ihren Ehemann und ihre Schwester: Ich beginne wieder Stimmen zu hören, und ich kann mich diesen nicht noch einmal aussetzen.
Mit den Gesammelten Werken ist Ihnen etwas gelungen, was es im Heimatland der Schriftstellerin noch gar nicht gibt!
Virginia Woolf ist im Grunde in England nach dem Krieg nicht wirklich wahrgenommen worden, weil ihre Art des Erzählens eher 'unenglisch' ist. Die Engländer möchten gern handfeste Geschichten. Virginia Woolf wurde erst Anfang der 1960er Jahre von der Frauenbewegung entdeckt. Und da hat man sich die Köpfe darüber zerbrochen, war sie denn wirklich eine Frauenrechtlerin oder nicht, statt die Hausaufgaben zu machen und die Texte ordentlich zu edieren und zu kommentieren. Und es ist bezeichnend, dass es in England keine Gesamtausgabe gibt wie in Deutschland. Auch in Frankreich und Italien ist Woolf eine große Autorin. In England gibt es zwar Virginia Woolf-Societies, aber dass man ihr Werk pflegt und mit kommentierten Ausgaben auf den Markt bringt, beginnt erst langsam, mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod.
Der Anglistik-Professor Klaus Reichert war bis 2011 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Die Akademie verleiht den Georg-Büchner-Preis, den wichtigsten deutschen Literaturpreis.
Das Interview führte Andrea Kasiske