Ramiz Nukic: Ein Leben gegen die Völkermordleugnung
9. November 2022Sooft er konnte, fuhr Ramiz Nukic in den Wald am Kamenice-Hügel im Osten Bosnien und Herzegowinas, meistens einige Male die Woche. Dorthin, wo er selbst in den Juli-Tagen des Jahres 1995 den Völkermord von Srebrenica überlebt hatte. Er fuhr auf seinem kleinen Traktor mit einem kleinen Anhänger zwei, drei Kilometer. Im Wald nahm er einen Ast. Dann durchkämmte er das Laub des Stück Bodens, das er sich für diesen Tag vorgenommen hatte. Langsam, systematisch und mit einem Blick, den forensische Anthropologen als außergewöhnlich scharf bezeichneten.
Fast jedes Mal fand er Gegenstände von Ermordeten. Oft auch menschliche Knochen. Er konnte sie fehlerlos von Tierknochen unterscheiden. Und er konnte sie Körperpartien zuordnen, obwohl er nie ein Anatomie-Buch gelesen hatte.
Die Knochen behandelte Nukic mit Würde. Er legte sie vorsichtig an ihre Fundstelle zurück, die er in seinem Kopf gespeichert hatte. Dann rief er Ermittler und Pathologen an und führte sie zur Fundstelle. Sie sagten, er sei ein Phänomen.
20 Jahre lang suchen
Er suchte fast zwei Jahrzehnte lang. Anfangs seinen Vater und seine beiden Brüder. Er fand sie nicht, ihre Überreste wurden später anhand von Funden in weit entfernten Massengräbern identifiziert. Doch er konnte nicht aufhören mit der Suche. "Vielleicht hat Gott mir diese Aufgabe gegeben", sagte er manchmal.
Insgesamt fand Ramiz Nukic die Überreste von mehr als 300 Ermordeten. In Bosnien war er eine bekannte Persönlichkeit. Kein anderer Einzelner hat jemals auch nur annähernd so viele Überreste von Menschen gefunden, die im Bosnien-Krieg (1992-1995) ermordet wurden, wie er.
Den "Todesmarsch von Srebrenica" überlebt
Ramiz Nukic lebte als Bergbauer mit seiner Familie in einem einsam gelegenen Haus in den Bergen Ostbosniens, etwa 15 Kilometer Luftlinie entfernt von Srebrenica. Er war dort auch aufgewachsen. Während des Kriegs mussten er und seine Familie in die ostbosnische Kleinstadt flüchten, die die UN zur "Schutzzone" erklärt hatten. Als Srebrenica im Juli 1995 von den Truppen des später als Kriegsverbrecher verurteilten bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladic eingenommen wurde, war Nukic unter den Tausenden Jungen und Männern, die sich auf den so genannten Todesmarsch von Srebrenica begaben, um ihr Leben zu retten und von der bosnischen Armee gehaltenes Gebiet zu erreichen.
Am Kamenice-Hügel, unweit von Nukics Heimathaus, geriet die Kolonne am Morgen des 12. Juli 1995 in einen Hinterhalt. Im Granaten- und Raketenhagel starben Hunderte Menschen. Ramiz Nukic überlebte. Er schlug sich teils allein, teils in kleinen Gruppen tagelang durch vermintes und belagertes Gebiet, bis er befreites Territorium nahe der Stadt Tuzla erreichte.
Spurensuche als Hilfe für andere
Im Jahr 2002 konnten Ramiz Nukic und seine Familie in ihr völlig zerstörtes Wohnhaus zurückkehren. Damals fing auch seine Suche an. Wenn man Nukic nach seinen Beweggründen fragte und danach, wie er es aushalten könne, so dicht am Ort des Völkermordes und seines eigenen Überlebens zu wohnen, antwortete er in einfachen Worten und meistens lakonisch: "Anfangs wollte ich meinen Vater und meine Brüder finden. Als ich sie nicht fand, dachte ich, dass ich wenigstens anderen Familien helfen könnte, ihre Angehörigen zu finden. Wenn ich suche, ist es sehr schwer, weil ich all die schrecklichen Bilder von damals jedes Mal von Neuem sehe. Aber ich muss und will suchen. Es ist etwas, das aus meinem Herzen kommt."
Ramiz Nukic verstand seine Suche auch als einen Beitrag gegen die Völkermord-Leugnung. Dass in Srebrenica ein Genozid stattfand, wurde schon vor Jahren vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag festgestellt. Dennoch wird der Völkermord vor allem von den politischen Führungen Serbiens und der Republika Srpska, dem serbisch dominierten Teil Bosniens, systematisch verharmlost oder geleugnet - in den vergangenen Jahren immer offener und aggressiver.
Das gängige Narrativ lautet: Die meisten Opfer von Srebrenica seien Soldaten gewesen und im Kampf gestorben, außerdem habe es viele Selbstmorde gegeben; zudem stimme die Zahl der Opfer von mehr als 8000 Ermordeten nicht.
Nukic begegnete den Leugnungsnarrativen stoisch, ohne Empörung und Hass - doch er suchte mit großer Hartnäckigkeit immer weiter nach Überresten der Ermordeten, im Bewusstsein, dass jedes Knochenstück ein weiterer unwiderlegbarer Beweis für den Völkermord war.
Ramiz Nukic lebte mit seiner Familie in sehr bescheidenen, ja ärmlichen Verhältnissen. Er betrieb Schafzucht und Subsistenz-Landwirtschaft und nutzte fast jeden freien Augenblick für seine Suche. Er erhielt viel Besuch von einheimischen, aber auch von ausländischen Journalisten.
Keine Anerkennung, keine Unterstützung
Bosnische Politiker kamen nicht zu ihm. In Bosnien ist das Gedenken an den Völkermord von Srebrenica eines der zentralsten Elemente der nationalen Identität. Dennoch erfahren die Überlebenden bis heute so gut wie keine würdige Unterstützung. Auch Ramiz Nukic hatte sie nie erfahren. Obwohl seine Rolle bei der Identifikation Hunderter Ermordeter überragend war, bekam er von offiziellen Stellen niemals Geld oder andere materielle Hilfe für seine Suche. Und auch keinerlei offizielle Anerkennung - obwohl er höchste staatliche Auszeichnungen und Orden verdient hätte.
Wenn man ihn danach fragte, wusste er nichts zu antworten - so, als hätte er nie über die Frage von Anerkennung nachgedacht. Wichtig war ihm, so lange wie möglich weiter zu suchen. "Ich werde suchen, solange ich lebe", pflegte er zu sagen. Er hat Wort gehalten. Am Dienstag (08.11.2022) verstarb Ramiz Nukic nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 63 Jahren.