Jahrhundertkünstler: Wer war Joseph Beuys?
11. Mai 2021Kaum ein Künstler ist bekannter als Joseph Beuys, selbst 35 Jahre nach seinem Tod. In seinem 100. Geburtsjahr und zumal in seinem Geburtsland feiern ihn zahllose Museen. Doch wer war der seltsame Kerl aus Deutschland, zu dessen Markenzeichen Anglerweste und Hut gehörten, der bevorzugt mit Fett und Filz arbeitete, der den Kapitalismus abschaffen und die Welt mit Kunst heilen wollte? Warum spaltet er bis heute die Kunstwelt? Fest steht: Schon lange nicht mehr wurde derart viel über den Zeichner, Bildhauer, Philosoph, Lehrer, Aktions- und Installationskünstler geschrieben - und debattiert wie rund um Beuys 100. Geburtstag am 12. Mai 2021.
Kaum einem Künstler werden so viele Etiketten angeheftet: Fett- und Filzmagier, Gesellschaftskritiker, Öko- und Demokratieaktivist, Selbstdarsteller, Menschenfänger, Weltverbesserer, Kunstprofessor, Mitbegründer der Grünen, Schamane, Medienstar, Aktionskünstler – die Reihe ließe sich fortsetzen.
Nichts davon ist falsch, aber keine Bezeichnung beschreibt den ganzen Beuys. Wer also oder was war Joseph Beuys wirklich? Und was nicht? Darüber lässt sich trefflich streiten. Welches Bild der Künstler rückblickend abgibt, hängt zuallererst von der Brille ab, durch die man den Jubilar betrachtet. Sein breites Lachen, sein durchdringender Blick, seine flammende Rede – all das zog die Menschen in seinen Bann. Mehr noch waren es aber seine Ideen: "Beuys versuchte, die Kunst mit der 'Sozialen Plastik' von einem elitären Sockel zu holen und sie in die Lebenswirklichkeit der Menschen zu überführen", sagt etwa Bettina Paust, die frühere Leiterin des Beuys-Museums Moyland am Niederrhein und Mitherausgeberin eines gerade erschienenen Beuys-Handbuchs.
Beuys und die "soziale Plastik"
Die "soziale Plastik" war das zentrale Konzept im Beuysschen Kunstkosmos. Beuys' Formel "Jeder Mensch ist ein Künstler" meinte: Jeder Mensch als soziales Wesen hat die schöpferische Kraft, sich selbst und die Welt zu verändern. So erweiterte Beuys den Kunstbegriff. Mit seiner Kunst, seinen Aktionen, seinen Reden stellte er Fragen: Was ist Demokratie? Ist der Kapitalismus am Ende? Was leistet Kunst für die Gesellschaft? Unter Kunst verstand Joseph Beuys nicht einzelne Werke, die man ins Wohnzimmer oder ins Museum stellt, sondern Ereignisse, Gespräche und Denkprozesse. Diese sollte man durch Aktionen anstoßen, damit sie eine eigene Dynamik entfalteten.
Auch deshalb nahm Beuys einst hunderte Studenten in seiner Düsseldorfer Akademie-Klasse auf - womit er seinen Rauswurf als Kunstprofessor provozierte. Für Beuys war es ein Akt der Teilhabe: "Beuys programmatische Parole war Teil jenes gesellschaftlichen Partizipationsversprechens, das sogar eine Demokratisierung des Kunstbetriebs denkbar werden ließ", schreibt der Kunsthistoriker Christian Saehrendt in der "Neuen Zürcher Zeitung".
Ein Versprechen, das sich nicht erfüllte: "Das wichtigste Vermächtnis von Beuys blieb unerfüllt", urteilt Saehrendt, "eine tiefergehende Demokratisierung der Gesellschaft fand nicht statt."
Beuys arbeitete sich am Zeitgeist der Nachkriegsjahre ab. Wirtschaftsaufschwung und sozialliberale Politik gaben den Ton an, doch Beuys hielt dagegen. Er zeichnete. Er fertigte – zumeist unter Einsatz von Fett und Filz – massenhaft Objekte, Skulpturen und Installationen. Vor allem aber verlieh er seinen gesellschaftsverändernden, basisdemokratischen Ideen mit Kunstaktionen und Happenings Ausdruck.
Kunstaktionen und Happenings
Eine der spektakulärsten fand im Jahr 1982 auf der documenta 7 statt, als er in Kassel 7000 Eichen pflanzte. Sein Slogan: "Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung!"
Eine "Honigpumpe am Arbeitsplatz" hatte er bereits auf der documenta 6 im Kasseler Fridericianum installiert, als eine Art künstlerische Kapitalismuskritik. Nicht weniger berühmt die Beuys-Aktion "I like America and America likes Me" von 1974, als sich der Künstler zwei Tage lang mit einem lebenden Kojoten in einer New Yorker Galerie einschließen ließ - was ihm den Ruf eines Schamanen einbrachte.
Ganz und gar unstrittig ist Beuys' Erfolg am Kunstmarkt. Seit ihm sein Galerist René Block 1974 mit der Installation "Das Rudel" zum Durchbruch verhalf, wurde er bald auch in den USA und somit international bekannt. Im Herbst 1979 richtete ihm das New Yorker Guggenheim-Museum bereits eine monumentale Retrospektive aus und feierte den Deutschen als "bedeutendsten europäischen Nachkriegskünstler". Die Preise für Beuys-Werke schossen in die Höhe. Heute sind seine Werke - vorzugsweise Multiples, Skulpturen und Rauminstallationen -in Privatsammlungen und Museen weltweit vertreten.
Seine Kunst begründete Beuys mit biographischen Mythen. Er erfand die "Tatarenlegende", wonach er als Wehrmachtspilot über der Krim abgestürzt und von Tataren gesundgepflegt worden sei. "Sie rieben meinen Körper mit Fett ein, damit die Wärme zurückkehrte, und wickelten mich in Filz, weil Filz die Wärme hält." Mit diesem Erlebnis begründete Beuys die Verwendung von Filz und Fett als Energiespeicher. Auch berief er sich auf Rudolf Steiner und dessen anthroposophischen Wärmebegriff.
Märchen als Teil der künstlerischen Selbstinszenierung
Anders als behauptet hatte Beuys kein Abitur. Er zog auch nicht als Schüler ein halbes Jahr mit einem Wanderzirkus umher. Sein militärischer Rang, seine Tapferkeitsmedaille, seine Kopfverletzung, die ihn zum Tragen des typischen Hutes zwang – alles Märchen, die Beuys den Zeitgenossen auftischte, als Teil seiner künstlerischen Selbstinszenierung. Der Schweizer Autor Hans Peter Riegel war es, der 2013 mit Beuys' Mythen und Legenden gnadenlos aufräumte.
Fünf Jahre zuvor hatte der Kunsthistoriker Beat Wyss, Professor an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, Beuys als "Ewigen Hitlerjungen" kritisiert, dem braunen Ungeist seiner Kindheit im niederrheinischen Kleve verhaftet. Anlässlich einer Beuys-Retrospektive im Hamburger Bahnhof in Berlin schrieb Wyss einen vielbeachteten Essay für das Kunstmagazin "Monopol".
Darin brandmarkte er Beuys als politisch Rechten, als "Wiedergänger der 30er-Jahre", dem eine "habituelle Verschmelzung von völkischem Wandervogel und 68er-Rebell" gelungen sei. Beuys Vorstellung von Politik als "Sozialer Plastik" sei "patriarchal bis ins Mark". Empörte Beuys-Fans sprangen ihrem Idol bei, Kritiker sahen sich bestätigt. Die Debatte um das Beuyssche Kunsterbe war endgültig eröffnet. Sie hält bis heute an.