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PolitikTürkei

Nordsyrien: Kommen gefangene IS-Kämpfer bald frei?

Burak Ünveren | Muhammed Kafadar
19. Januar 2025

Es wird nach wie vor gekämpft im Norden Syriens. Immer wieder gibt es Gefechte zwischen protürkischen und kurdischen Milizen. Von deren Ausgang hängt auch die Zukunft gefangener IS-Kämpfer ab.

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In diesem Gefängnisraum sind auf etwa 30 Quadratmetern etwa 100 IS-Gefangene untergebracht
In diesem Gefängnisraum sind auf etwa 30 Quadratmetern etwa 100 IS-Gefangene untergebracht. Man fürchtet die Auswirkungen einer möglichen Freilassung der IS-KämpferBild: Chris Huby/Le Pictorium Agency via ZUMA/dpa/picture alliance

Die Türkei verfolgt im Norden Syriens ihre eigene Agenda: Sie will eine kurdische Autonomiezone verhindern. Vor allem das Militärbündnis SDF ist ihr dabei ein Dorn im Auge. Denn die Allianz "Syrische Demokratische Kräfte" (SDF) wird von der kurdischen Miliz YPG dominiert - in den Augen der Türkei eine Terrororganisation. "Die SDF muss ihre Auflösung ankündigen", formulierte unlängst der türkische Außenminister Hakan Fidan die Position Ankaras in Nordsyrien. Und liegt damit auf einer Linie mit den neuen syrischen Machthabern in Damaskus, die eine Auflösung aller Milizen im Land bekanntgegeben haben. 

Für die türkische Regierung stellt die Anwesenheit der YPG im Nachbarland ein Sicherheitsrisiko dar. Aus diesem Grund marschierten türkische Kräfte schon 2016 in den Norden Syriens ein und verhinderten so eine territoriale Einheit der von den Kurden kontrollierten Gebiete.

Während Ankara die YPG als Ableger der kurdischen PKK betrachtet, die von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird, unterscheidet Washington zwischen den beiden Organisationen. Die YPG gilt bis heute als eine der wichtigsten Verbündeten der USA im Kampf gegen IS-Anhänger in Syrien.

Die Türkei und die IS-Gefahr

Momentan sitzen zahlreiche IS-Anhänger in Gefängnissen, die von der vorwiegend kurdischen SDF kontrolliert werden. Die Allianz fürchtet, dass ein möglicher Angriff der Türkei auf sie dazu führen würde, dass die IS-Mitglieder auf freie Fuß kommen. Man könne sie in diesem Fall nicht mehr unter Kontrolle halten, kündigte die SDF an.

Die Türkei dagegen versucht, die internationale Gemeinschaft zu beruhigen: Man könne die Verwaltung dieser Gefängnisse übernehmen und verhindern, dass die IS-Mitglieder freigelassen würden. "Als Türkei sind wir dafür bereit", sagte Außenminister Fidan unlängst. "Im Falle eines Militäreinsatzes darf die Türkei im Rahmen des internationalen Rechts diese Gefängnisse verwalten und die Häftlinge weiterhin dort halten", bestätigt Muhammet Celal Kul, Jurist der türkischen Bolu-Universität.

Kann der IS zurückkommen?

Obwohl der IS heute als besiegt gilt, sind seine Kämpfer weiterhin bewaffnet und aktiv. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden 2024 bei Anschlägen, zu denen sich der IS bekannte, 108 Zivilisten getötet. In der Vergangenheit versuchten IS-Mitglieder auch immer wieder, Lager und Gefängnisse unter kurdischer Kontrolle zu überfallen.

IS-Kämpfer in orangenen Klamotten
Auf diesem am 26. Oktober 2019 gemachten Bild sieht man Männer, die zum Islamischen Staat Verbindungen haben sollen. Tausende IS-Kämpfer leben heute noch unter kurdischer Kontrolle im Norden SyriensBild: FADEL SENNA/AFP

Im September 2024 erklärte der US-Kommandeur Michael Kurilla, dass in mindestens 20 solcher Gefängnisse mehr als 9000 IS-Mitglieder inhaftiert seien. Außer Irakern und Syrern säßen etwa 2000 IS-Kämpfer aus 58 Ländern ein. Rund 800 von ihnen kämen aus Europa. Außerdem gibt es Lager, in denen etwa 50.000 Ehefrauen und Kinder von IS-Kämpfern leben. Eines der bekanntesten ist das Lager al-Hol unweit der Grenze zur Türkei .

Die internationale Gemeinschaft fürchtet eine Radikalisierung dieser Menschen, die seit 2016 laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International "unter unmenschlichen Bedingungen und gegen ihren Willen" in diesen Lagern gehalten würden.

Niemand möchte sie zurück

Die Herkunftsländer sind bislang zurückhaltend, IS-Kämpfer und ihre Frauen und Kinder zurückzunehmen. Laut der Nichtregierungsorganisation Rights and Security International seien bislang nur 3365 Menschen zurückgeführt worden.

Wenn die Türkei die Kontrolle dieser Lager und Gefängnisse übernehmen sollte, könnte das zu einem großen Druck auf die Herkunftsländer führen, dass sie ihre Staatsbürger zurücknehmen müssen, erklärt Alison Bisset, Professorin für internationales Recht an der Reading-Universität in Großbritannien. "Bisher begründeten viele Länder ihre Entscheidung, ihre Staatsangehörigen nicht zurückzunehmen, damit, dass SDF kein 'Entsendestaat' war. Wenn dann ein Staat wie die Türkei die Kontrolle dieser Anlagen übernimmt, wird es schwierig sein, diese Begründung weiterhin zu benutzen", so Bisset.

Besonders kompliziert sei die Lage der Kinder, die größtenteils als Folge von Vergewaltigungen oder aus Zwangsehen geboren wurden. Laut der Organisation Save the Children leben in den Lagern al-Hol und Roj über 6000 Kinder. Vielen fehlten Papiere, die irgendeine Staatsangehörigkeit nachweisen.

Die Gegenstände eines IS-Kämpfers: Eine Tasche, IS-Fahne und ein IS-Stirnband
Die Gegenstände eines IS-Kämpfers, der von den kurdischen Milizen verhaftet wurdeBild: SDF/AP photo/picture alliance

Ausbürgerung als "Lösung"?

Die Herkunftsländer könnten die Betroffenen allerdings auch ausbürgern. "Viele Staaten haben Gesetze, die die Ausbürgerung Ihrer Staatsangehörigen ermöglichen, falls die nationale Sicherheit in Gefahr ist. Allerdings würde diese Lösung die Menschenrechte erheblich verletzen", so Bisset und ergänzt: "Diesen Weg schlug zum Beispiel bereits das Vereinigte Königreich ein." Sie verweist damit auf die in Großbritannien geborene Shamima Begum , die mit 15 Jahren über die Türkei nach Syrien reiste und einen IS-Kämpfer heiratete - und dann vergebens zurück nach Hause wollte.

Dies dürfe keine gängige Methode werden, warnt Tanya Mehra vom Internationalen Zentrum für Terrorismusbekämpfung (ICCT) in den Niederlanden. "Länder sind laut einem UN-Vertrag dazu verpflichtet, zu verhindern, dass eine Person heimatlos wird", so Mehra. 

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.