Produktive Einsamkeit - Künstler in der Corona-Krise
Von wegen Langeweile. Isolation und Quarantäne lösen bei einigen Künstlern einen Schaffensrausch aus. Dass Einsamkeit die Produktivität steigern kann, zeigen Beispiele von Victor Hugo, Ai Weiwei, Igor Levit und anderen.
Igor Levit: Gemeinsam statt einsam
Der russisch-deutsche Starpianist Igor Levit gibt in der Corona-Krise jeden Abend ein Hauskonzert live im Netz oder kurz danach als Mitschnitt auf Twitter. Diese Hauskonzerte, die Igor Levit stets leger gekleidet bestreitet, sind seine Art, um Kontakt zum Publikum zu halten, und zugleich eine kleine abendliche Fingerübung, die inzwischen Kultstatus hat.
Leïla Slimani: Privileg der Langeweile
Vor allem in Frankreich bildet sich gerade eine neue literarische Gattung heraus: Das Quarantäne-Tagebuch. Die Bestseller-Autorin Leïla Slimani veröffentlicht in der Tageszeitung "Le Monde" ihre Chronik und schwärmt vom Morgennebel, den Knospen am Lindenbaum und der blühenden Kamelie. "Ausgangssperre? Für den Schriftsteller ein Glücksfall!", schreibt sie begeistert.
Alexander Iskin: Überwachte Einsamkeit
Acht Stunden am Tag ließ sich der 29-jährige Künstler 50 Tage lang bei der Arbeit per Webcam beobachten. Auch beim Schlafen und Essen. Schon vor der Corona-Krise zog sich Iskin bis Ende März in die Berliner Galerie Sexauer zurück, um konzentriert malen zu können. Er sah immer verwilderter aus, war aber höchst produktiv: Die entstandenen Leinwände könnten nach der Pandemie in den Verkauf gehen.
Kirill Serebrennikow: Isolation als Moment der Wahrheit
Auch der russische Theaterregisseur wusste seine Isolation zu nutzen. Anderthalb Jahre stand er unter Hausarrest. Im März 2020 veröffentlichte er ein Video mit Tipps für die Corona-Krise: "Lesen, Tagebuchschreiben, Sport treiben, im Haus arbeiten, Freundschaften pflegen. Wichtigste Erkenntnis: Streichen Sie die Begriffe 'Quarantäne', 'Isolation'. Es ist ein 'Neustart'. Es ist 'Erholung'."
Marina Abramović: Klausur im Kloster
Die serbische Performance-Künstlerin Marina Abramović verbringt jeden Jahreswechsel in Indien in einem Kloster, um zu meditieren und Energie zu schöpfen. "Wir müssen Situationen schaffen, in denen unser Körper gesund ist und gut funktioniert", sagt sie. Als sie sich zum ersten Mal für drei Monate zur Klausur zurückzog, musste sie alle ihre Habseligkeiten verbrennen, um "neugeboren" zu werden.
Ai Weiwei: Einheit von Kunst und Leben
2009 wurde der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei verhaftet und von der Polizei geschlagen, bis er Gehirnblutungen bekam. Er hatte eine gründliche Untersuchung der Opfer eines Erdbebens durch Pfusch am Bau in Sichuan gefordert. Er antwortete mit OP-Selfies als Kritik am Regime. Die Zeit, die er 2011 in Peking in Haft und mit Hausarrest verbrachte, verwandelte er in Kunst.
Liu Xia: Kreativ trotz Bestrafung
Liu Xia, Dichterin und Witwe des 2017 verstorbenen chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, war ebenfalls in China in Haft. Sie durfte acht Jahre lang ihr Haus nicht verlassen. Die Ohnmacht gegenüber dem Regime drückte Liu Xia in Gedichten und Fotografien aus, die auch im Berliner Martin-Gropius-Bau ausgestellt wurden. Doch sie litt auch unter Depressionen.
Edvard Munch: Produktiv aus Angst
Edvard Munch hatte panische Angst vor der Spanischen Grippe, die 1918 in Europa ausbrach. Der norwegische Maler verarbeitete die Pandemie in mehreren Werken: Er malte einen Mann mit Bronchitis oder Personen, die an der Grippe erkrankt waren. Dazu zog er sich in eine selbst gewählte Isolation zurück und lebte nur noch mit seinen Bildern. Und malte und malte.
Alexander Puschkin: Schaffensrausch in Boldino
Der russische Dichter Alexander Puschkin, Begründer der modernen russischen Literatur, zog sich 1830 für mehrere Monate aufs Familienlandgut Boldino zurück, um der Cholera-Pandemie zu entgehen. Dort lag er zwar bis 15 Uhr im Bett, schrieb aber einen Text nach dem anderen: Gedichte, Novellen, Märchen, Romane. Ohne Ablenkung.
Victor Hugo: Schreiben in der Verbannung
Der französische Autor wurde 1851 von Napoleon Bonaparte zuerst inhaftiert und dann verbannt. Dazu musste er sogar symbolisch sein letztes Hemd ausziehen. Er ließ sich für 19 Jahre auf den zu England gehörenden Kanalinseln Jersey und Guernsey nieder. Er nutzte seine Auszeit vor allem, um den "Kleinen Napoleon" aus dem Exil zu attackieren. Er schrieb aber auch an Romanen wie "Les Misérables".
Blaise Pascal: Glück der Ruhe
Der französische Philosoph Blaise Pascal sah im Verlassen des Zimmers die Ursache allen Übels: Er schrieb circa 1657 in der berühmten Zettelsammlung "Pensées" (Gedanken): "Das ganze Unglück der Menschen kommt daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können." Pascal selber war tief religiös und das Im-Zimmer-Bleiben für ihn ein Weg zum Wesentlichen, also zu Gott.