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MeinungsfreiheitIndien

Pressefreiheit: Indiens Angst vor Rachitas Strichmännchen

Elizabeth Grenier
11. Oktober 2024

Während Indien hart gegen die Meinungsfreiheit vorgeht, sieht sich die politische Karikaturistin Rachita Taneja von einer möglichen Gefängnisstrafe bedroht. Sie ist Schöpferin des Webcomics "Sanitary Panels".

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Rachita Taneja steht mit einem Protestplakat in einer Menschenmenge
Rachita als Klimaaktivistin - ein Filmstill aus der Dokumentation "Drawing a Line"Bild: Clin d’Oeil Films

"Es begann als Hobby, um meine Freunde zum Lachen zu bringen", erzählt Rachita Taneja. Vor zehn Jahren lud sie ihren ersten Comic auf Facebook hoch. Die Menschenrechtsaktivistin, die damals schon für eine gemeinnützige Organisation arbeitete, war chronisch online.

"Mir fiel es schwer, den Nachrichten zu entkommen", erzählte sie der DW auf dem Filmfestival Menschenrechte in Berlin. Die indische Karikaturistin stellte hier "Drawing a Line" vor, einen Dokumentarfilm über ihre Arbeit.

Als sie mit dem Zeichnen begann, war Narendra Modi gerade zum Premierminister Indiens gewählt worden. Taneja hatte das Gefühl, dass sie auf die Versuche Modis Regierung, die Meinungsfreiheit einzuschränken, direkt reagieren musste.

Die Hauptrolle in ihren Comics spielen einfache Strichmännchen. Die Zeichnungen kommentieren alle möglichen sozialen, politischen und kulturellen Themen: von #MeToo und dem Patriarchat bis hin zu Meinungsfreiheit und der Diskriminierung von Minderheiten.

Die Cartoons sind in ihrer Webserie "Sanitary Panels" zusammengefasst - ein Wortspiel aus "sanitary pads" (Damenbinden) und "comic panels" (Comic-Panels). Der Titel spiegelt ihren feministischen Hintergrund wider. 

Zehn Jahre nach dem ersten Comic hat "Sanitary Panels" mehr als 133.000 Follower auf Instagram und fast 50.000 auf X. Taneja hat mittlerweile Fans auf der ganzen Welt und wurde 2024 mit dem Kofi Annan Courage in Cartooning Award ausgezeichnet.

Viel Hass im Internet 

Doch bei all der Anerkennung sieht sich die politische Karikaturistin aus Indien auch extremem Online-Hass ausgesetzt, bis hin zu Vergewaltigungs- und Todesdrohungen. Ihre "Kritzeleien" könnten sie sogar ins Gefängnis bringen.

Der Oberste Gerichtshof hat 2020 ein Verfahren gegen sie eingeleitet. Teneja wird wegen "Missachtung des Gerichts" angeklagt, weil sie mit ihren Zeichnungen die Institution kritisiert haben soll.

Auf den Fall wurde die Zeichnerin aufmerksam, weil jemand sie in den sozialen Medien getaggt hatte: "Ich habe auf Twitter erfahren, dass ein Verfahren gegen mich läuft, und hatte sofort eine Panikattacke", sagt sie.

Von anderen Karikaturisten erhält Taneja viel Unterstützung. Die Tatsache, dass sich eine der wichtigsten Institutionen Indiens durch ihr Projekt bedroht fühlen könnte, erscheint ihr surreal: "Wie kann das höchste Gericht in der größten Demokratie der Welt sich mit meinen Strichmännchen befassen?", fragt sie in der Dokumentation.

Rachita Taneja vor einem Plakat des Human Rights Film Festivals in Berlin
Die indische Karikaturistin Rachita Taneja beim Human Rights Film Festival in BerlinBild: Elizabeth Grenier/DW

Indiens Meinungsfreiheit bedroht

"Seit Narendra Modi 2014 zum Premier gewählt wurde, befinden sich indische Medien in einem 'inoffiziellen Ausnahmezustand'", stellt die Menschenrechtsorganisation "Reporter ohne Grenzen" fest. Sie hat Indien in ihrer Rangliste für Pressefreiheit 2024auf Platz 159 von 180 Ländern eingestuft.

Die Organisation weist auch auf die engen Beziehungen zwischen Modi und den Familien hin, denen die wichtigsten Medien des Landes gehören. Diese dienten als Sprachrohr der Regierung. Modis Partei, die Bharatiya Janata Party (BJP), wird dafür kritisiert, dass sie die Agenda von Hindu-Extremisten vorantreibt, die in einem Klima der Straffreiheit Terror gegen Muslime säen.

Koordinierte Kampagnen, die zur Rache an Regierungskritikern aufrufen, werden von der hindunationalistischen Rechten organisiert: "Journalisten, die sich kritisch über die Regierung äußern, sind regelmäßig Online-Belästigungen, Einschüchterungen, Drohungen und physischen Angriffen sowie strafrechtlichen Verfolgungen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt", heißt es im aktuellen Bericht von "Reporter ohne Grenzen".

Zensur kritischer Inhalte

Bücher stapeln sich auf einem Tisch. Davor steht ein Mann und schreibt etwas auf
Inspiration aus alten Büchern: Eindrücke vom Buchmarkt in Neu DelhiBild: Subrata Goswami/DW

Ein BBC-Dokumentarfilm aus dem Jahr 2023, der die Rolle der Regierung von Narendra Modi bei der Verbreitung von Hass gegen die Muslime in Indien untersucht, wurde im Land zensiert. Die Behörden untersagten das Teilen von Ausschnitten der Dokumentation und forderten Twitter und YouTube auf, Links und Videos zu löschen.

Solche Zensurversuche bewirken jedoch oft genug das Gegenteil, da sie den Inhalt ins Rampenlicht rücken - ein Phänomen, das als "Streisand-Effekt" bekannt ist, benannt nach der US-Sängerin Barbra Streisand, die gerichtlich dagegen vorging, dass ein Bild von ihr auf einer obskuren Webseite herumgeisterte.

Das machte das Bild erst recht zu einem viralen Ereignis. Auch der Webcomic "Sanitary Panels" profitiert von dem Effekt. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Urteils des Obersten Gerichtshofs Indiens stellte Rachita Taneja einen sprunghaften Anstieg Follower-Zahlen fest.

In der Hoffnung, Online-Inhalte besser kontrollieren zu können, hat die Regierung Modi 2024 einen Entwurf zum Rundfunkgesetz ausgearbeitet, das alle Anbieter sozialer Medien als "digitale Nachrichtensender" definiert. Es gibt den Behörden das Recht, Inhalte zu verbieten, die sie für unangemessen hält. Der Gesetzesentwurf wird weithin als neuerliche Bedrohung der Redefreiheit kritisiert.

Indiens Kulturszene im Aufbruch

Da die BJP bei den Wahlen im Juni jedoch keine Mehrheit erlangte, muss Premierminister Modi nun mit Koalitionspartnern zusammenarbeiten. Dies führte dazu, dass der Gesetzentwurf nicht verabschiedet wurde, sondern überarbeitet werden muss.

Dennoch bleiben viele politische Kommentatoren, Journalisten, Künstler, Aktivisten und Komiker wachsam - darunter Kunal Kamra, einer der populärsten Stand-up-Komiker Indiens, gegen den ebenfalls eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof läuft.

"Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Selbstzensur gibt", sagt Rachita Taneja in 'Drawing a Line'. "Wenn man sich Gewaltandrohungen und rechtlichen Schritten ausgesetzt sieht und sich in einem solchen Klima anpasst, ist das keine Selbstzensur, sondern Zensur. Schlicht und einfach."

Trotz der Drohungen und der Zensur hat Taneja vor, in ihrem Heimatland zu bleiben. "Ich liebe Indien zu sehr", sagt sie. Sie findet es unfair, aus Sicherheitsgründen über einen Umzug nachdenken zu müssen - und fügt sogleich hinzu, dass sie sich in der indischen Gesellschaft in einer privilegierten Position befindet, da sie als Hindu und Angehörige einer höheren Kaste geboren wurde.

Somit hatte sie Zugang zu einer guten Ausbildung und zu Reisen in die ganze Welt. "Ich denke, dieses Privileg schützt mich bis zu einem gewissen Grad auch.

Rachita Taneja sitzt auf dem Sofa und zeichnet auf ein IPad
Rachita Taneja zeichnet auf einem I-Pad. Filmstill der Dokumentation "Drawing a Line"Bild: Clin d’Oeil Films

Unabhängig davon sind die "Sanitary Panels" zu einem wichtigen Teil von Rachita Tanejas Leben geworden: "Ich hätte noch mehr Angst, wenn ich meinen Comic nicht machen würde. Ich glaube, es ist mittlerweile fast schon ein Zwang. Damit ich die Welt um mich herum verarbeiten kann, muss ich Comics machen. Ich glaube, es hilft mir, über ein Thema nachzudenken und es in einem Comic zu verarbeiten."

"Drawing a Line" wird in Indien nicht gezeigt, um Rachita Taneja und ihre Dokumentarfilmerin, die unter dem Pseudonym Pana Sama arbeitet, zu schützen. Eine abschließende Vorführung auf dem Berliner Menschenrechtsfilmfestival findet am 12. Oktober statt.

Adaptiert aus dem Englischen von Theresa Szorek.