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PolitikPolen

Polen und das Holocaust-Gedenken

Monika Sieradzka (aus Warschau)
24. Januar 2025

Die Vernichtung der Juden durch Nazideutschland fand während des Zweiten Weltkriegs überwiegend im besetzten Polen statt. Für viele Polen ist das Gedenken an die Shoah eine Herausforderung.

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Eine gegossene und eine gemauerte Gedenstele stehen nebeneinander auf einer Lichtung in einem Wald. Auf der Betonstele stehen Namen unter einem schwarzen Davidstern. Vor der gemauerten Stele steht ein Blumengebinde, das von Schnee bedeckt ist
Im Wald bei der Gemeinde Szumowo im Osten Polens erinnert eine Gedenktafel an die hier im Jahr 1941 ermordeten JudenBild: Monika Sieradz​ka​/DW

Mitten im Wald, 120 Kilometer nordöstlich von Warschau, zeigen Schilder den Weg zu einem "Ort des nationalen Gedenkens". Im Januar 2025 ist Michael Zev Gordon wieder hier, in der Gemeinde Szumowo, genau an der Stelle, wo sein Großvater Zalman Gorodecki im August 1941 als einer von 1500 polnischen Juden getötet wurde. Der gebürtige Brite hat davon erst vor einigen Jahren aus den Memoiren seiner verstorbenen Großmutter erfahren. Früher wurde in der Familie nie darüber gesprochen.

"Ich bin in einem großen Schweigen aufgewachsen, so groß wie die Stille jetzt in diesem Wald", sagt der Komponist aus London. Auf einem Hügel sieht man Steine, die das Massengrab markieren. "Seitdem ich hierher komme, fühle ich mich mit meinem Großvater verbunden, obwohl ich ihn nicht kannte", fügt er hinzu.

Ein Mann mit kurzem Haar und einer schwarz umrandeten Brille steht vor einer Gedenkstele, auf der unter einem Davidsstern Namen eingraviert sind. Die Landschaft ist winterlich verschneit
Der britische Komponist Michael Zev Gordon besucht die Stelle, an der sein Großvater Zalman Gorodecki von deutschen Truppen ermordet wurdeBild: Monika Sieradz​ka​/DW

Am Grab hat die Warschauer Stiftung "Zapomniane" (Die Vergessenen) eine hölzerne Grabtafel und eine Stele mit einigen Namen der Ermordeten errichtet. Seit 2014 sucht und markiert sie wenig bekannte Orte der Judenmassaker im besetzten Polen während der Nazizeit. Im Wald von Szumowo befand sich früher ein Gedenkstein aus den 1970er Jahren, aber keine Information, dass hier Juden von deutschen Truppen ermordet wurden.

"Unsere Arbeit basiert auf Informationen von lokalen Gemeinden, die sich bei uns melden, weil sie der jüdischen Opfer gedenken wollen. Weil sie fühlen, dass in der lokalen Geschichte eine Lücke existiert", erklärt Agnieszka Nieradko, die Zapomniane-Direktorin. Die Stiftung steht der Rabbinerkommission für jüdische Friedhöfe in Polen nahe.

Polen als Schauplatz des Holocaust

Massenerschießungen und Pogrome an den Juden hatten gleich nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 angefangen. Ab Juni 1941, als Deutschland die Sowjetunion und damit die sowjetisch besetzten Ostgebiete Polens überfiel, verübten deutsche Einsatztruppen und lokale Hilfskräfte eine massive Welle von Judenmassakern, an denen manchmal auch polnische Nachbarn beteiligt waren.

Im besetzten Polen wurden deutsche Vernichtungslager wie Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec, Kulmhof, Majdanek errichtet. Von fast 3,5 Millionen polnischer Juden vor 1939 überlebten nur einige Hunderttausend den Holocaust - die meisten nur deswegen, weil sie 1940 und 1941 von Stalin nach Sibirien verschleppt worden waren.

Eine gemauerte Wand an der mehrere Gedenktafeln aus Bronze angebracht sind. Über den Tafeln die Aufschrift Sobibor
Gedenktafel im Konzentrations- und Vernichtungslager SobiborBild: Przemek Wierzchowski/dpa/picture-alliance

Nach 1945 übernahm der kommunistische Staat das jüdische Eigentum, und im Fokus der Geschichtspolitik standen polnische Kriegsopfer. Der Holocaust spielte eine untergeordnete Rolle, obwohl fünf von sechs Millionen der im Holocaust ermordeten Juden auf polnischem Territorium starben. Drei Millionen waren polnische Staatsbürger.

Die Zahl der nicht-jüdischen Polen, die NS-Opfer wurden, betrug je nach Schätzungen ungefähr zwei Millionen. Jahrzehntelang wurden alle Opfer als "polnische Staatsbürger" bezeichnet. Erst seit der Wende von 1989 ist die Geschichte der polnischen Juden kein Tabuthema mehr.

Auschwitz - ein Symbol nicht nur für die Juden

Piotr Cywinski, Direktor des Auschwitz-Museums in der Nähe des polnischen Ortes Oswiecim, sieht ein wachsendes Interesse an der Geschichte der Shoah. Im Rekordjahr 2019 haben 2,4 Millionen Menschen das Museum besucht. "Ein Großteil unserer Besucher sind Jugendliche. Und die Lehrer, die diese Gruppen begleiten, waren hier früher meistens schon selbst. Deshalb verstehen sie den Sinn eines solchen Besuches und wissen, was es mit einem machen kann", sagt Cywinski der DW. Auch die Vorbereitung und das Vorwissen um den Holocaust und Auschwitz seien heute viel besser als noch vor 20 Jahren.

Ein langgestreckter Bau mit einem Turm in der Mitte, unter dem Eisenbahngeleise hindurch führen
Die Bahngleise und das Eingangstor des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau im polnischen Oswiecim. Der Ort dient heute als GedenkstätteBild: Friso Gentsch/dpa/picture alliance

In Auschwitz-Birkenau, der größten deutschen Todesfabrik, wurden eine Million Juden umgebracht. Von den restlichen 100.000 Opfern waren dreiviertel nicht-jüdische Polen. Es sei auch ein wichtiger Ort für die Polen, erklärt Cywinski. "Jedes polnische Opfer hat 20 bis 30 Nachkommen, die das Gedenken pflegen. Auschwitz ist also für viele Polen ein Ort des Gedenkens. Das ist auch verständlich, es darf so sein."

Historiker befürchtet "Polonisierung" des Holocaust

Der Holocaust-Forscher Jan Grabowski dagegen spricht von einer Geschichtsverzerrung. "Was sich in der polnischen Erinnerungskultur abspielt, nenne ich eine Polonisierung des Holocausts. In die Geschichte der ermordeten Juden werden polnische Inhalte eingebaut", sagt der polnisch-jüdische Historiker, der an der Universität Ontario in Kanada arbeitet.

Porträtaufnahme eines bärtigen Mannes mit Brille, der mit ernstem Blick in die Kamera schaut
Der polnische Historiker und Holocaust-Forscher Jan GrabowskiBild: Jan Grabowski/picture alliance/dpa/

Laut Umfragen des polnischen Meinungsforschungsinstituts CBOS für die Krakauer Jagiellonen-Universität aus dem Jahr 2020 brachten 50 Prozent der Befragten in Polen Auschwitz in erster Linie mit polnischen Opfern in Verbindung, während 43 Prozent es in erster Linie als Ort des Holocaust sahen. 82 Prozent der Befragten waren überzeugt, dass die Polen den Juden während des Holocaust geholfen haben. Die Hälfte der Befragten sagte, dass die Juden genauso gelitten hätten wie die Polen.

Seit 2015 ist der 14. Juni in Polen ein Nationaler Tag des Gedenkens an die Opfer der deutschen nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Das Datum wurde ausgewählt, weil am 14. Juni 1940 die ersten Häftlinge nach Auschwitz gebracht wurden: Es waren ca. 700 nicht-jüdische Polen. Das Vernichtungslager für die Juden, Auschwitz-Birkenau, entstand erst 1941.

Polnisches Märtyrertum in Treblinka

Der Historiker Grabowski empört sich über die Hunderte von Kreuzen in Treblinka, die als Erinnerung an die ungefähr 300 polnischen Opfer des dortigen Arbeitslagers aufgestellt wurden. Der Ort ist zwei Kilometer vom Vernichtungslager entfernt, wo die Deutschen 900.000 Juden in Gaskammern ermordet haben. Jedes Jahr finden dort offizielle Gedenkfeiern und katholische Gebete statt. "Vom zweitgrößten jüdischen Friedhof der Welt wird Treblinka allmählich in einen Ort des polnischen Märtyrertums verwandelt, was schwer begreiflich ist", sagt Grabowski.

Seit 2021 erinnert am Bahnhof Treblinka ein Denkmal an einen Polen, der im Sommer 1942 den ankommenden Juden Wasser gereicht und dafür von den Deutschen getötet worden sein soll. So die offizielle Version des Pilecki-Instituts, das 2017 von der damaligen Regierung der national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zur Umsetzung ihrer Geschichtspolitik gegründet wurde.

"Dass dieser konkrete Mann für seine Taten getötet wurde, dafür gibt es keine historischen Beweise. Was aber historisch belegt ist, ist die Tatsache, dass ausgedurstete, in Viehwaggons zusammengepferchte Juden für Wasser mit Geld und Kostbarkeiten zahlen mussten", sagt Grabowski. Dass man das Bild des helfenden Polen zum Symbol macht, nennt der Forscher eine "Holocaust-Leugnung".

Eine historische Aufnahme zeigt Männer und Frauen mit Koffern und Taschen, die auf einer Straße laufen. Hinter ihnen läuft ein Soldat, hinter dem mit Menschen beladene Fahrzeige zu sehen sind
Abtransport aus dem Warschauer Ghetto im Jahr 1943. Die meisten Juden aus der polnischen Hauptstadt wurden in das Vernichtungslager Treblinka gebrachtBild: Reinhard Schultz/imago images

Er wirft der liberal-konservativen Regierung von Donald Tusk Passivität in Fragen der Geschichtspolitik vor. Zwar spiele sie jetzt, ganz anders als für die nationalistisch-konservative PiS-Regierung (2015-2023) keine zentrale Rolle in der Politik. Doch Tusk sei auch nicht daran interessiert, die Manipulationen aus der PiS-Zeit zurückzudrehen. 

Polen und Juden - ein schwieriges Verhältnis

Die PiS sorgte mit ihrer nationalistisch ausgerichteten Geschichtspolitik oft für Aufregung, wie etwa 2018 mit dem sogenannten "Holocaust-Gesetz". Es sah eine Gefängnisstrafe von drei Jahren für diejenigen vor, die den Polen eine Beteiligung an den Nazi-Verbrechen, darunter am Holocaust, zuschreiben würden. Nach Protesten aus den USA, des größten politischen Verbündeten Polens, wurde das Gesetz entschärft.

Ein hölzerner Grabstein, in den ein schiefer Davisstern eingeritzt ist. Darunter ist eine verblasste Inschrift
Ein hölzerner Grabstein (Matzeva) im Wald von Szumowo zur Erinnerung an 1500 Juden, die hier im Augst 1941 von deutschen Soldaten ermordet wurden Bild: Monika Sieradz​ka​/DW

Die heiße Debatte in Polen damals zeigte, wie heikel das Thema Holocaust und die polnisch-jüdischen Beziehungen sind. Doch eine ehrliche Aufarbeitung dieser Themen scheint im Moment nicht in Sicht.

Interesse am Holocaust - 80 Jahre danach

Laut Agnieszka Nieradko brauche es Zeit, bis die Gesellschaft bereit sei, über schwierige Themen zu diskutieren. Dass erst jetzt, 80 Jahre nach Kriegsende, immer neue Orte der Judenmassaker gefunden würden, sei ein Beweis dafür. "Das Geschichtsbewusstsein wächst, vielleicht weil diejenigen, die sich damit jetzt beschäftigen, keine Schuldgefühle haben und sich auch nicht bedroht fühlen, wenn sie sich mit der jüdischen Geschichte befassen", sagt die Aktivistin.

Eine Frau in einem dunklen Wintermantel mit einer roten Mütze und einem grünen Schal (Agnieszka Nieradko) steht in einem verschneiten Wald und legt die Hand auf eine hölzerne Grabstele, in die ein Davidstern eingeritzt ist.
Agnieszka Nieradko, Direktorin der polnischen Stiftung "Die Vergessenen" (poln. Zapomniane) steht neben einer Holzmatzewa, die ein Massengrab markiert.Bild: Monika Sieradz​ka​/DW

Im Wald von Szumowo sucht der britische Komponist Michael Zev Gordon auch immer wieder Inspiration für seine Musik. Sein neuestes Werk "A Kind of Haunting", das bald in London und später in Polen aufgeführt werden soll, basiert auf seiner Familiengeschichte und ist eine Mischung aus Musik, Memoiren und Gedichten. Die Vergangenheit habe ihn "eingeholt", sagt er. "Ich bin der Enkel meines Großvaters und will seine Geschichte an meine Kinder weitergeben. So wird sie weiterleben - und mein Großvater bleibt unvergessen."

Die vergessenen Orte des "Dispersed Holocaust"

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau