Polen und das Holocaust-Gedenken
24. Januar 2025Mitten im Wald, 120 Kilometer nordöstlich von Warschau, zeigen Schilder den Weg zu einem "Ort des nationalen Gedenkens". Im Januar 2025 ist Michael Zev Gordon wieder hier, in der Gemeinde Szumowo, genau an der Stelle, wo sein Großvater Zalman Gorodecki im August 1941 als einer von 1500 polnischen Juden getötet wurde. Der gebürtige Brite hat davon erst vor einigen Jahren aus den Memoiren seiner verstorbenen Großmutter erfahren. Früher wurde in der Familie nie darüber gesprochen."
"Ich bin in einem großen Schweigen aufgewachsen, so groß wie die Stille jetzt in diesem Wald", sagt der Komponist aus London. Auf einem Hügel sieht man Steine, die das Massengrab markieren. "Seitdem ich hierher komme, fühle ich mich mit meinem Großvater verbunden, obwohl ich ihn nicht kannte", fügt er hinzu.
Am Grab hat die Warschauer Stiftung "Zapomniane" (Die Vergessenen) eine hölzerne Grabtafel und eine Stele mit einigen Namen der Ermordeten errichtet. Seit 2014 sucht und markiert sie wenig bekannte Orte der Judenmassaker im besetzten Polen während der Nazizeit. Im Wald von Szumowo befand sich früher ein Gedenkstein aus den 1970er Jahren, aber keine Information, dass hier Juden von deutschen Truppen ermordet wurden.
"Unsere Arbeit basiert auf Informationen von lokalen Gemeinden, die sich bei uns melden, weil sie der jüdischen Opfer gedenken wollen. Weil sie fühlen, dass in der lokalen Geschichte eine Lücke existiert", erklärt Agnieszka Nieradko, die Zapomniane-Direktorin. Die Stiftung steht der Rabbinerkommission für jüdische Friedhöfe in Polen nahe.
Polen als Schauplatz des Holocaust
Massenerschießungen und Pogrome an den Juden hatten gleich nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 angefangen. Ab Juni 1941, als Deutschland die Sowjetunion und damit die sowjetisch besetzten Ostgebiete Polens überfiel, verübten deutsche Einsatztruppen und lokale Hilfskräfte eine massive Welle von Judenmassakern, an denen manchmal auch polnische Nachbarn beteiligt waren.
Im besetzten Polen wurden deutsche Vernichtungslager wie Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec, Kulmhof, Majdanek errichtet. Von fast 3,5 Millionen polnischer Juden vor 1939 überlebten nur einige Hunderttausend den Holocaust - die meisten nur deswegen, weil sie 1940 und 1941 von Stalin nach Sibirien verschleppt worden waren.
Nach 1945 übernahm der kommunistische Staat das jüdische Eigentum, und im Fokus der Geschichtspolitik standen polnische Kriegsopfer. Der Holocaust spielte eine untergeordnete Rolle, obwohl fünf von sechs Millionen der im Holocaust ermordeten Juden auf polnischem Territorium starben. Drei Millionen waren polnische Staatsbürger.
Die Zahl der nicht-jüdischen Polen, die NS-Opfer wurden, betrug je nach Schätzungen ungefähr zwei Millionen. Jahrzehntelang wurden alle Opfer als "polnische Staatsbürger" bezeichnet. Erst seit der Wende von 1989 ist die Geschichte der polnischen Juden kein Tabuthema mehr.
Auschwitz - ein Symbol nicht nur für die Juden
Piotr Cywinski, Direktor des Auschwitz-Museums in der Nähe des polnischen Ortes Oswiecim, sieht ein wachsendes Interesse an der Geschichte der Shoah. Im Rekordjahr 2019 haben 2,4 Millionen Menschen das Museum besucht. "Ein Großteil unserer Besucher sind Jugendliche. Und die Lehrer, die diese Gruppen begleiten, waren hier früher meistens schon selbst. Deshalb verstehen sie den Sinn eines solchen Besuches und wissen, was es mit einem machen kann", sagt Cywinski der DW. Auch die Vorbereitung und das Vorwissen um den Holocaust und Auschwitz seien heute viel besser als noch vor 20 Jahren.
In Auschwitz-Birkenau, der größten deutschen Todesfabrik, wurden eine Million Juden umgebracht. Von den restlichen 100.000 Opfern waren dreiviertel nicht-jüdische Polen. Es sei auch ein wichtiger Ort für die Polen, erklärt Cywinski. "Jedes polnische Opfer hat 20 bis 30 Nachkommen, die das Gedenken pflegen. Auschwitz ist also für viele Polen ein Ort des Gedenkens. Das ist auch verständlich, es darf so sein."
Historiker befürchtet "Polonisierung" des Holocaust
Der Holocaust-Forscher Jan Grabowski dagegen spricht von einer Geschichtsverzerrung. "Was sich in der polnischen Erinnerungskultur abspielt, nenne ich eine Polonisierung des Holocausts. In die Geschichte der ermordeten Juden werden polnische Inhalte eingebaut", sagt der polnisch-jüdische Historiker, der an der Universität Ontario in Kanada arbeitet.
Laut Umfragen des polnischen Meinungsforschungsinstituts CBOS für die Krakauer Jagiellonen-Universität aus dem Jahr 2020 brachten 50 Prozent der Befragten in Polen Auschwitz in erster Linie mit polnischen Opfern in Verbindung, während 43 Prozent es in erster Linie als Ort des Holocaust sahen. 82 Prozent der Befragten waren überzeugt, dass die Polen den Juden während des Holocaust geholfen haben. Die Hälfte der Befragten sagte, dass die Juden genauso gelitten hätten wie die Polen.
Seit 2015 ist der 14. Juni in Polen ein Nationaler Tag des Gedenkens an die Opfer der deutschen nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Das Datum wurde ausgewählt, weil am 14. Juni 1940 die ersten Häftlinge nach Auschwitz gebracht wurden: Es waren ca. 700 nicht-jüdische Polen. Das Vernichtungslager für die Juden, Auschwitz-Birkenau, entstand erst 1941.
Polnisches Märtyrertum in Treblinka
Der Historiker Grabowski empört sich über die Hunderte von Kreuzen in Treblinka, die als Erinnerung an die ungefähr 300 polnischen Opfer des dortigen Arbeitslagers aufgestellt wurden. Der Ort ist zwei Kilometer vom Vernichtungslager entfernt, wo die Deutschen 900.000 Juden in Gaskammern ermordet haben. Jedes Jahr finden dort offizielle Gedenkfeiern und katholische Gebete statt. "Vom zweitgrößten jüdischen Friedhof der Welt wird Treblinka allmählich in einen Ort des polnischen Märtyrertums verwandelt, was schwer begreiflich ist", sagt Grabowski.
Seit 2021 erinnert am Bahnhof Treblinka ein Denkmal an einen Polen, der im Sommer 1942 den ankommenden Juden Wasser gereicht und dafür von den Deutschen getötet worden sein soll. So die offizielle Version des Pilecki-Instituts, das 2017 von der damaligen Regierung der national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zur Umsetzung ihrer Geschichtspolitik gegründet wurde.
"Dass dieser konkrete Mann für seine Taten getötet wurde, dafür gibt es keine historischen Beweise. Was aber historisch belegt ist, ist die Tatsache, dass ausgedurstete, in Viehwaggons zusammengepferchte Juden für Wasser mit Geld und Kostbarkeiten zahlen mussten", sagt Grabowski. Dass man das Bild des helfenden Polen zum Symbol macht, nennt der Forscher eine "Holocaust-Leugnung".
Er wirft der liberal-konservativen Regierung von Donald Tusk Passivität in Fragen der Geschichtspolitik vor. Zwar spiele sie jetzt, ganz anders als für die nationalistisch-konservative PiS-Regierung (2015-2023) keine zentrale Rolle in der Politik. Doch Tusk sei auch nicht daran interessiert, die Manipulationen aus der PiS-Zeit zurückzudrehen.
Polen und Juden - ein schwieriges Verhältnis
Die PiS sorgte mit ihrer nationalistisch ausgerichteten Geschichtspolitik oft für Aufregung, wie etwa 2018 mit dem sogenannten "Holocaust-Gesetz". Es sah eine Gefängnisstrafe von drei Jahren für diejenigen vor, die den Polen eine Beteiligung an den Nazi-Verbrechen, darunter am Holocaust, zuschreiben würden. Nach Protesten aus den USA, des größten politischen Verbündeten Polens, wurde das Gesetz entschärft.
Die heiße Debatte in Polen damals zeigte, wie heikel das Thema Holocaust und die polnisch-jüdischen Beziehungen sind. Doch eine ehrliche Aufarbeitung dieser Themen scheint im Moment nicht in Sicht.
Interesse am Holocaust - 80 Jahre danach
Laut Agnieszka Nieradko brauche es Zeit, bis die Gesellschaft bereit sei, über schwierige Themen zu diskutieren. Dass erst jetzt, 80 Jahre nach Kriegsende, immer neue Orte der Judenmassaker gefunden würden, sei ein Beweis dafür. "Das Geschichtsbewusstsein wächst, vielleicht weil diejenigen, die sich damit jetzt beschäftigen, keine Schuldgefühle haben und sich auch nicht bedroht fühlen, wenn sie sich mit der jüdischen Geschichte befassen", sagt die Aktivistin.
Im Wald von Szumowo sucht der britische Komponist Michael Zev Gordon auch immer wieder Inspiration für seine Musik. Sein neuestes Werk "A Kind of Haunting", das bald in London und später in Polen aufgeführt werden soll, basiert auf seiner Familiengeschichte und ist eine Mischung aus Musik, Memoiren und Gedichten. Die Vergangenheit habe ihn "eingeholt", sagt er. "Ich bin der Enkel meines Großvaters und will seine Geschichte an meine Kinder weitergeben. So wird sie weiterleben - und mein Großvater bleibt unvergessen."