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Politik

EU-Justizstreit: Polen lenkt nur scheinbar ein

9. August 2021

Polens Regierungspartei PiS will die vom EuGH für illegal erklärte Disziplinarkammer für Richter durch ein neues Disziplinarsystem ersetzen. Parteichef Kaczynski betont, dass das kein Einlenken gegenüber Brüssel sei.

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Jaroslaw Kaczynski PiS Partei­vorsitzender
Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender von Polens Regierungspartei PiS und VizepremierministerBild: W. Radwanski/AFP/Getty Images

Die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts in Warschau existiert in ihrer jetzigen Form seit 2018. Das Gremium wurde mit regierungstreuen Richtern besetzt und ist wie viele andere Organe im polnischen Justizsystem Gegenstand der Kritik des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).

Mitte Juli hatte der EuGH entschieden, dass die Kammer gegen EU-Recht verstößt. Der Grund sei die fehlende politische Unabhängigkeit ihrer Mitglieder und "Ausübung von Druck auf Richter", so die Richter. Die Arbeit der Kammer solle eingestellt, die Urteile der vergangenen Jahre müssten für ungültig erklärt werden. Bis Mitte August muss Polen darlegen, wie die Regierung dem EuGH-Urteil nachzukommen gedenkt.

Luxemburg, Europäischer Gerichtshof EUGH
Der Sitz des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in LuxemburgBild: CHROMORANGE/picture alliance

Als Jaroslaw Kaczynski, der Chef der nationalkonservativen Regierungspartei PiS und Vizepremierminister Polens, am 7.08.2021 im Interview mit der polnischen Presseagentur PAP die Abschaffung der "Disziplinarkammer des Obersten Gerichts in ihrer jetzigen Form" ankündigte, klang das zunächst wie ein Einlenken Polens. Doch das ist die Entscheidung offenbar nicht. "Wir wollen diese Kammer nicht wegen des EuGH-Urteils reformieren, sondern einfach, weil sie ihre Aufgaben nicht erfüllt," so Kaczynski. Abschaffen "in der jetzigen Form" bedeute ja auch nicht, dass die Einrichtung ganz verschwinden soll.

Im PAP-Interview deutete Kaczynski auch an, in welche Richtung eine Reform gehen könnte: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, es gibt nur wenige Länder, in denen Richter Immunität genießen, und es wäre gut, diese in Polen abzuschaffen." Damit würde ein wichtiger Kompetenzbereich der Kammer wegfallen. Bisher hat das Gremium aus offensichtlich politischen Gründen die Immunität mehrerer Richter aufgehoben, was in Polen für Aufregung gesorgt hatte.

Kaczynski will EU-Verträge "reformieren"

Weiter stellte Kaczynski fest, dass er das Urteil des EuGH zur Disziplinarkammer nicht anerkenne und dass es über die EU-Verträge hinaus gehe. "Im Übrigen sollten auch die Verträge reformiert werden", so der PiS-Chef weiter. Mit seiner Ankündigung will Polens Vizepremier gleichzeitig "testen", wie Brüssel reagiert: "Dies wird auch ein Test dafür sein, ob es auch den Anschein eines guten Willens in der EU gibt." Die Pläne zur Reform der Disziplinarkammer seien schon lange vor dem EuGH-Urteil fertig gewesen.

Polen Warschau | Protest gegen Justizreform | Marsch der tausend Roben
Der Slogan der Proteste gegen die Justizreform in Polen bei einer Demonstration in Warschau im Januar 2021Bild: picture-alliance/NurPhoto/A. Kalka

Michal Wawrykiewicz, Rechtsanwalt und Aktivist der Initiative "Freie Gerichte" betont, dass die Disziplinarkammer nur ein Element der massiven Kritik der EU-Organe an der polnischen Justizreform ist. Zu beachten sei aber die gesamte Rechtsprechung des EuGH und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte" (EGMR), der Polens Justizreformen ebenfalls kritisiert. "Daraus folgt nicht nur die Abschaffung der Disziplinarkammer, sondern auch des ganzen Systems der Richterernennung, das durch den politisierten Landesjustizrat neu geschaffen wurde", sagt Wawrykiewicz der DW.

"Manipulatives Signal" an Europa

"Kaczynski schickt an Europa ein manipulatives Signal, indem er sagt, dass die Disziplinarkammer abgeschafft wird - und gleichzeitig, dass an ihrer Stelle eine andere Einrichtung geschaffen wird", betont Wawrykiewicz. Der Anwalt und Aktivist hat keine Zweifel daran, dass dieses neue Organ ebenfalls unter PiS-Kontrolle stehen wird. "Es ist also ein Spiel mit der EU, um Zeit zu gewinnen, ein Versuch, die Situation zu verkomplizieren und zu manipulieren, um weiter an EU-Gelder zu kommen", fügt er hinzu.

EU Vera Jourova
Vera Jourova, die Vizevorsitzende der Europäischen KommissionBild: Yves Herman/AP Photo/picture alliance

Sobald das Geld aus dem Corona-Wiederaufbaufonds nach Polen fließe, werde die PiS wieder "Aktionen starten, die darauf abzielen, die unabhängigen Gerichte zu vernichten". Auch die Vizevorsitzende der Europäischen Kommission, Vera Jourova, zuständig für Werte und Transparenz, hatte vor einigen Wochen gewarnt: Sollte Polen die Entscheidung des EuGH nicht umsetzen, also die Tätigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs nicht vollständig aussetzen, werde die Europäische Kommission beim EuGH finanzielle Sanktionen beantragen.

Angst um EU-Gelder

Genau das sei es, wovor Jaroslaw Kaczynski Angst habe, so der Generalsekretär der größten polnischen Oppositionspartei Bürgerplattform (PO), Marcin Kierwinski, im Interview mit dem Sender TVN24: "Herr Kaczynski war erschrocken über das EU-Ultimatum", so der Oppositionspolitiker. Kierwinski fürchtet, dass die angekündigte Neuaufstellung der Disziplinarkammer "noch restriktiver" sein werde: "Das wird noch mehr die Mittelmäßigen, Passiven, aber Gläubigen fördern." Den offiziellen Erklärungen Kaczynskis zur Disziplinarkammer glaubt Kierwinski nicht. Er kann sich vorstellen, dass der PiS-Chef "das eine ankündigt und etwas ganz anderes macht".

Polen Premierminister Mateusz Morawiecki
Polens Premierminister Mateusz MorawieckiBild: Wojciech Olkusnik/PAP/picture alliance

Eine Kursverschärfung gegen unbotsame Richter hatte Premierminister Mateusz Morawiecki bereits in einer Pressekonferenz am 22.07.2021 angedeutet. Er habe "eine Reihe von schockierenden, seltsamen Verhaltensweisen von Richtern festgestellt, die nicht angemessen geahndet wurden". Das bedeute, dass die Disziplinarkammer ihre Aufgabe nicht erfüllt habe.

"Es ist notwendig, nach Lösungen zu suchen, die die Disziplinarkammer funktionieren lassen", so Morawiecki. Das Gremium müssen in der Lage ist, "diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, tatsächlich zu verurteilen, und nicht, wie in der Vergangenheit, abzuwarten oder leichtfertige Urteile zu fällen". Die Kammer müsse Entscheidungen treffen, wie sie "in einem zivilisierten Land getroffen werden sollten. Ich glaube, dass sich 99 Prozent der Polen dies wünschen würden", so Polens Premier.

Mit der Reform der polnischen Justiz will die seit 2015 regierende PiS gegen Korruption von Richtern und gegen das "Erbe des Kommunismus" im Justizsystem vorgehen. Die Regierung in Warschau will im September konkrete Änderungsvorschläge zur neuen Disziplinarkammer vorlegen.

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau