Platz für Flüchtlinge in Deutschland?
6. März 2020In Strömen fließt das Regenwasser zwischen den Pflastersteinen in Richtung Gully. Regenschirme und Kapuzen huschen über den Bonner Marktplatz, Feierabendzeit. Etwa 60 Menschen bleiben stehen, versammeln sich um rote Grablichter, halten durchweichte Transparente in die Höhe: "Kommunale Aufnahme jetzt", "für sichere Häfen und legale Fluchtwege" oder "kein Mensch ist egal". Die Hilfsorganisationen "Seebrücke", "Sea-Eye" und "Jugend rettet" demonstrieren für die Aufnahme von Flüchtlingen.
"Die Lage in Griechenland, auf den griechischen Inseln, spitzt sich weiter zu und das wollen wir nicht akzeptieren", ruft Lailah Atzenroth, ihre schwarzen Handschuhe umklammern ein Mikrofon. Applaus dringt durch das Prasseln des Regens. Sie schildert die Lage der Menschen, die im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Griechenland ausharrten, bedroht seien von Kälte, Polizei und rechtsextremen Schlägern.
Hilfe im Alleingang
"Es geht um Menschen in Not", sagt Atzenroth später der DW. "Menschenwürde ist unverhandelbar und sollte immer die erste Regel jeder politischen Handlung sein. Aber ich habe das Gefühl, dass sich die Politik davon gelöst hat. Viele Menschen fühlen sich ohnmächtig."
Die Bundesregierung zögert, neue Flüchtlings-Kontingente aufzunehmen, solange die anderen EU-Staaten nicht mitziehen. Für die Demonstranten in Bonn ist das nicht akzeptabel. "Wir wollen deshalb, dass Kommunen Geflüchtete aufnehmen können, ohne dass der Bundesinnenminister sein Einverständnis geben muss", sagt die 22-jährige Studentin. "Bonn etwa hat gerade 331 Plätze frei, die besetzt werden könnten, um Menschen in Not aufzunehmen. Viele Kommunen in Deutschland sind dazu bereit und haben Kapazitäten."
Die Stadt als sicherer Hafen
2019 hatte der Bonner Stadtrat beschlossen, dass die Stadt dem Bündnis "Sicherer Hafen" beitritt. Die Stadt erklärt sich damit bereit, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als der offizielle Verteilungsschlüssel vorsieht. Insgesamt etwa 140 Kommunen in Deutschland haben sich dem Bündnis mittlerweile angeschlossen. In einem Appell fordert zudem ein überparteiliches Bündnis aus sieben Oberbürgermeistern (Köln, Düsseldorf, Potsdam, Hannover, Freiburg im Breisgau, Rottenburg am Neckar und Frankfurt an der Oder) sowie dem Innenminister Niedersachsens, Boris Pistorius, die Bundesregierung auf, ihnen endlich zu erlauben, freiwillig mehr Flüchtlingskinder aufnehmen zu können. Dies ist bislang rechtlich nicht möglich.
Christian Steins ist einer derjenigen, die im Bonner Stadtrat für den Beitritt zum Bündnis "Sicherer Hafen" gestimmt haben. Bei der Demonstration steht der CDU-Lokalpolitiker am Rand, schützt sich mit Kapuzenpulli und Jacke vor dem Regen. Er ist hier, sagt er, "weil ich es richtig finde, heutzutage ein Zeichen zu setzen, dass man zusammensteht für Menschlichkeit".
Zerreißprobe durch Flüchtlingspolitik
Also sofort ein neues Kontingent von Flüchtlingen, die aus Griechenland nach Deutschland reisen können? "Natürlich ist es schwierig", sagt Steins. "Nach den Erfahrungen von 2015/2016 wird das natürlich wieder meine Partei aufrütteln." Damals entzweite die Flüchtlingspolitik die CDU, stellt die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD seitdem immer wieder vor Zerreißproben und führte zu einem Wählerwachstum der rechtspopulistischen AfD. "Nichtsdestotrotz müssen wir für Solidarität und Mitmenschlichkeit eintreten", so Steins. "Wir müssen den Menschen, die Hilfe brauchen auch helfen. Aber es sollte koordiniert stattfinden."
In Berlin findet die Forderung der aufnahmewilligen Kommunen vor allem bei den Grünen Gehör. Sie hatten am Mittwoch im Bundestag vorgeschlagen, dass Deutschland 5000 unbegleitete Kinder, Schwangere, allein reisende Frauen oder schwer Traumatisierte aus den griechischen Flüchtlingslagern aufnimmt. Im Parlament wurde dieser Antrag jedoch nur von der Linken unterstützt. Die Fraktionen von AfD und FDP sowie die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD stimmten dagegen.
Hilfe als nationale Aufgabe
Neue zusätzliche Flüchtlingskontingente seien "genau das falsche Signal" an die Menschen im türkisch-griechischen Grenzgebiet, sagt der CDU-Abgeordnete Alexander Throm im DW-Gespräch. Ein deutscher Alleingang bei der Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus Griechenland würde zudem die Bemühungen um eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage konterkarieren, sagt Throm. "Warum sollen andere europäische Länder bereit sein, sich an einem neuen Verteilmechanismus zu beteiligen, wenn sie davon ausgehen können, Deutschland löst die Probleme vorher sowieso schon alleine?"
Dass einzelne Kommunen in Deutschland sich bereit erklärten, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, sei "zunächst einmal ein Ausdruck der großen Hilfsbereitschaft, die wir in Deutschland seit vielen Jahren feststellen". Die Entscheidung über Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten könne jedoch nicht einzelnen Kommunen überlassen werden. "Es ist eine Zuständigkeit des Bundes, eine nationale Angelegenheit", so Throm, "weil letztlich auch dann die Lasten, sprich Soziallasten, Fürsorgelasten, dann auch vom Bund getragen werden müssen. Wir brauchen schon eine zentrale Steuerung und Ordnung im Migrationsgeschehen durch die Bundesregierung."
Deutsche in Flüchtlingsfrage gespalten
Wie könnte diese Steuerung aussehen? Wird die Bundesregierung neue Flüchtlingskontingente aufnehmen, in der Hoffnung, dass andere Länder in Europa ihrem Beispiel Folgen? Rolf Mützenich, Chef der SPD-Fraktion im Bundestag, macht dem Koalitionspartner von CDU und CSU Druck. "Ich erwarte, dass wir für Deutschland noch bis zum Ende der Woche eine Regelung zugunsten der Kinder erreichen", sagte er am Donnerstag. Momentan sieht es so aus, als ob Bundeskanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer noch eine EU-Lösung abwarten. Über die allerdings wird nun schon seit fünf Jahren gestritten, bislang ohne Ergebnis.
Und die Deutschen? Die Flüchtlingsfrage teilt das Land. Laut Umfragen befürwortet die Hälfte der Bürger derzeit einen Alleingang Deutschlands bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Die andere Hälfte lehnt dies ab. In Bonn rollen die Aktivsten der Flüchtlings-Hilfsorganisationen auf dem Marktplatz derweil ihre nassen Plakate ein. Es ist dunkel geworden. Sie sprechen bereits über die nächste Demo. Wenn es nicht regnet, da sind sie sicher, werden mehr Menschen auf die Straße gehen.