Machterhalt als Minimalziel bei Wahl in Japan
30. Oktober 2021Nur zwölf Tage gab das Gesetz den Parteien bis zur Parlamentswahl an diesem Sonntag Zeit, ihre Programme zu bewerben. Die Tradition eines kurzen Wahlkampfes zwang die über 1000 Kandidaten für die 465 Sitze im Unterhaus zu simplen Aussagen. "Wir stehen vor einer Zeitenwende, die über die Zukunft Japans bestimmt", erklärte etwa der neue Premierminister Fumio Kishida bei der Auflösung des Parlaments vor rund zwei Wochen.
Doch die Versprechen seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) erfüllen den Anspruch nach richtungsweisenden Weichenstellungen nicht. Vielmehr konzentrierte sich Kishida darauf, den Blick der Wähler mit seinem Schlagwort eines "neuen Kapitalismus" nach vorne zu richten, damit sie das miserable Pandemie-Management und die neoliberale Wirtschaftspolitik seiner Vorgänger Yoshihide Suga und Shinzo Abe vergessen.
Konjunkturpaket oder Umverteilung
Der 64-Jährige, der Regierung und LDP erst seit wenigen Wochen anführt, hat angekündigt, bis zum Jahresende ein großes Konjunkturpaket zu schnüren, um die angeschlagene Wirtschaft zu stärken. Das stimulierte Wachstum soll laut Kishida zugleich die Grundlage für höhere Löhne und Gehälter schaffen. Die nominalen Einkommen der Haushalte sind in den knapp neun Regierungsjahren von Abe und Suga nur um insgesamt 1,2 Prozent gewachsen.
Die Opposition unter Führung der Konstitutionellen Demokratischen Partei (CDP) argumentiert dagegen, dass Wachstum durch mehr Umverteilung entstehen soll. Deswegen will sie den Mindestlohn anheben und die Sozialausgaben ausweiten. Zudem versprach die CDP eine Stärkung der Diversität, etwa durch die Zulassung von gleichgeschlechtlichen Ehen und von unterschiedlichen Nachnamen für Ehepaare. "Hier unterscheiden wir uns von der Regierung am meisten", betonte CDP-Chef Yukio Edano.
Schwindende Popularität der LDP
Umfragen zufolge dürfte die regierende Koalition aus LDP und ihrem kleinen Partner Komeito, hinter der die buddhistische Laienorganisation Soka Gakkai steht, ihre Mehrheit im Parlament behalten und an der Macht bleiben. Nur laut einer Umfrage des Fernsehsenders FNN könnte die LDP erstmals seit drei Wahlen ihre eigene Mehrheit verlieren. Regierungschef Kishida will für seine LDP mindestens 233 Sitze erringen, um alleine regieren zu können. Das wären 43 Sitze weniger als bisher. Aber zusammen mit der Komei-Partei könnte die Koalition dann immer noch den Vorsitz in allen Parlamentsausschüssen übernehmen.
"Dieser geringe Anspruch spricht dafür, dass die LDP diese Wahl nicht als Selbstläufer betrachtet", meint der Ostasienwissenschaftler Axel Klein von der Universität Duisburg-Essen. "Die relativ geringe Popularität des Premierministers lässt bei der Regierung wenig Optimismus aufkommen." Nur rund die Hälfte der Japaner gaben Kishida nach seiner Wahl zum LDP- und Regierungschef ihre Zustimmung, deutlich weniger als nach einem solchen Wechsel üblich. Die Skepsis der Wähler zeigte sich am kürzlich, als die Regierungskoalition die Nachwahl für einen Abgeordneten des Oberhauses überraschend verlor.
Mächtiger Ex-Premier Abe
"Die Öffentlichkeit scheint besonders unzufrieden damit zu sein, wie abhängig Kishida von seinem Vorvorgänger Shinzo Abe ist", meint der Japan-Experte Tobias Harris von der US-Denkfabrik "Center for American Progress". "Die Mehrheit der Wähler will nicht, dass Kishida die Politik von Abe und seinem Nachfolger Suga fortsetzt." Der einflussreiche Ex-Premier hatte Kishida als Strippenzieher im Hintergrund geholfen, Ende September neuer LDP-Chef zu werden.
Nach Ansicht von Harris sehen viele Wähler Kishida als das "moderate Gesicht einer von Konservativen dominierten Regierung". Ein Indiz dafür: Kishidas indirekte Kritik an Abe, die langjährige Wirtschaftspolitik der "Abenomics" mit ihrer aggressiven Geld- und Fiskalpolitik habe die Ungleichheit verschärft, taucht im Wahlmanifest der LDP nicht auf.
Schreckgespenst "Kommunismus" zieht nicht mehr
Vier der fünf Oppositionsgruppen haben sich in immerhin zwei Drittel der Direktwahlbezirke auf einen gemeinsamen Kandidaten geeinigt, um eine realistische Siegchance gegen den LDP- oder Komeito-Vertreter zu haben. Die LDP warnte, die Wähler müssten die Demokratie gegen den "Kommunismus" verteidigen, weil sich auch die Kommunistische Partei an der Koordination der Kandidaten beteiligt. Doch damit dürfte die LDP kaum punkten, meint Japan-Experte Klein: "Die Angst vor einer sozialistischen Revolution ist mit den Jahren verschwunden, die Kommunisten haben ihren Schrecken als Demokratiefeind verloren."
Die Dominanz der LDP, die Japan seit ihrer Gründung 1955 mit der Ausnahme von vier Jahren regiert, beruht teilweise auf der geringen Mobilisierung der Nichtwähler. Beim letzten Urnengang vor vier Jahren nutzen nur 54 Prozent der Japaner ihr Stimmrecht. Auch diesmal könnte das Interesse gering bleiben. "Die Kritik der Opposition am Pandemie-Management und ihr Versprechen einer Senkung der Mehrwertsteuer scheinen nicht auszureichen, um mehr Japaner an die Wahlurne zu bringen", meint der Japan-Experte Klein.
Daher dürfte sich das Augenmerk am Sonntag vor allem auf das Abschneiden von Kishida richten. Sollte die LDP-Mehrheit zu stark schrumpfen oder sogar verloren gehen, dann muss er die wenigen Monate bis zur Oberhauswahl im Sommer 2022 für eine Stimmungswende nutzen. Andernfalls droht ihm eine ähnliche kurze Amtszeit wie seinem Vorgänger Suga, der sich nur ein Jahr an der Spitze von Regierung und Partei halten konnte.