Parlamentarisches Vorbild ohne Glanz?
17. Januar 2012Wer die Macht im Staat hat, das ist in der deutschen Verfassung eigentlich eindeutig geklärt: das vom Volk gewählte Parlament repräsentiert die 82 Millionen Deutschen, also das Volk. Das heißt, die 620 Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben den Auftrag, für das Volk - also in dessen Auftrag und Interesse - zu entscheiden: Wie viel und wofür gibt der Staat Geld aus, wann werden Soldaten zu internationalen Einsätzen entstandt und was steht in den Gesetzen? All das soll im Parlament debattiert, entschieden und kontrolliert werden.
Kluft zwischen Grundgesetz und politischer Realität
Doch die politische Realität im parlamentarischen Vorzeigeland sehe derzeit anders aus, sagen manche. Sie befürchten eine schleichende Verschiebung der Macht - weg vom Parlament, hin zur Regierung. Das kritisieren auch viele Oppositionspolitiker. Beispiel Bundessicherheitsrat: Das geheim tagende Regierungsgremium entscheidet über Rüstungsgeschäfte, wie Panzerlieferungen in das autoritär geführte Saudi-Arabien.
Vom Parlament kann dieser Bundessicherheitsrat nicht kontrolliert werden. Ein Skandal, sagt die Bundesvorsitzende der Grünen Claudia Roth: "Das ist wirklich eine Provokation gegenüber dem Gesetzgeber in diesem Land, wie man es sich kaum vorstellen kann und wie es sich das Parlament auch nicht gefallen lassen darf". Das Parlament sei der richtige Ort, um eine entsprechende Kontrolle auszuüben, unterstützt die Generalsekretärin der Sozialdemokraten Andrea Nahles diesen Kurs. "Und man wird sicherlich eine Konstruktion finden, wo auch Geheimhaltungsnotwendigkeiten berücksichtigt werden können". Nicht nur die Kontrollrechte des Parlaments würden verletzt, auch seine Gestaltungsspielräume sehen viele zunehmend in Gefahr. Denn eigentlich darf kein Euro öffentlicher Gelder ohne die Zustimmung des Parlaments ausgeben werden.
Nur das Parlament kann über den jährlich rund 300 Milliarden Euro schweren Staatshaushalt entscheiden. Doch hat das Parlament noch etwas zu entscheiden, wenn die deutsche Regierung zur Euro-Rettung Bürgschafts- und Kreditversprechen von bis zu 190 Milliarden Euro gibt, ohne vorab das Parlament zu konsultieren? Die Parlamentspräsidenten Deutschlands und Frankreichs liefen 2011 Sturm, weil sie Mitsprache und Budgethoheit beider Parlamente bedroht sahen. Finanzminister Wolfgang Schäuble, der die Milliarden Euro-Rettungspakte auf EU-Ebene aushandelt, winkte dagegen ab: Zu viel Parlamentsmitsprache sei schlecht für die deutsche Verhandlungsposition. Fehlt es also just jenem Parlament an Biss, das weltweit und von jungen Demokratien in Südamerika und Asien als Vorbild bezeichnet wird?
Parlamentsarbeit so schwierig wie zur Wiedervereinigung
Der Alterspräsident des Deutschen Bundestages, Heinz Riesenhuber (CDU), der bereits zehn Wahlperioden parlamentarische Höhen und Tiefen durchlebt hat, beruhigt: Zwar gebe es bei der Euro-Rettung ein massives Übergewicht der Regierenden. Die letzte Entscheidung über das Budget bleibe aber doch im Bundestag.
Und auch die Energiewende im Schweinsgalopp sei trotz einer Ethikkommission nicht undemokratisch abgelaufen, sagt der 76-jährige Parlamentarier. "Die eigentliche Arbeit im Parlament hat die Ethikkommission keineswegs ersetzt und das kann sie auch nicht, denn das war die Arbeit an den einzelnen Gesetzen." Das Rekordtempo, mit dem eine der größten politischen Weichenstellungen der deutschen Nachkriegsgeschichte von der Regierung durchs Parlament gedrückt wurde, machte aber auch ihn stutzig. "Das Parlament hat in einer idealen Welt eine sehr viel größere Ruhe, systematisch aufzuarbeiten, Gegenargumente zu prüfen und dann auch zu entscheiden." Genau das habe hier aber "ein wenig" gefehlt, sagt Riesenhuber.
Euro-Rettung, Energiewende und politischer Umbruch in Nordafrika – Alterspräsident Riesenhuber hat in 2011 Parlamentsarbeit im Ausnahmezustand gesehen, wie er es bislang nur bei der deutsch-deutschen Wiedervereinigung 1990 erlebt hat. Ob das das Machtgefüge zwischen Parlament und Regierung endgültig zu Ungunsten der Volksvertreter verschiebt, vermag auch er aber nicht vorherzusagen. Noch scheint das Rennen zwischen Regierung und Parlament also offen.