Ostdeutsche und Russland
29. Mai 2022Eines möchte Wolfgang Weisskopf, Kreisvorsitzender der CDU Erfurt, sofort klarstellen: "Der Ukraine muss mit jedem Mittel geholfen werden, bis zur Schwelle eines Weltkriegs", teilt er den 15 Parteimitgliedern mit, die vor ihm an Tischen Platz genommen haben. Was genau das bedeuten könnte, lässt er offen, aber darum geht es auch nicht bei diesem Treffen in einem Raum über einer Traditionskneipe am Erfurter Domplatz.
Weisskopfs Hinweis ist notwendig, denn alle Teilnehmer sind gekommen, um sich einen Vortrag von Martin Kummer anzuhören. Kummer ist Vorsitzender der Deutsch-Russischen Freundschaftsgesellschaft in Thüringen; ein Mann, so würde man vermuten, der in den letzten Wochen keinen leichten Stand hatte. Natürlich hat er böse Mails erhalten, doch er winkt gelassen ab: "Nicht viele - ich werde Putin-Versteher genannt."
Der Titel seines Vortrags ist: "Russlands Überfall auf die Ukraine - Worauf sollten wir uns einstellen?" Er will darüber sprechen, wie wichtig es ist, zivilgesellschaftliche Kontakte mit Russland nicht abreißen zu lassen - besonders jetzt, zu Kriegszeiten. Der 68-jährige Kummer, ebenfalls Christdemokrat, der 16 Jahre lang Bürgermeister seiner Heimatstadt Suhl war, bedauert den Krieg und spricht sich gleichzeitig dagegen aus, Partnerschaften mit russischen Städten zu beenden.
Obwohl er den von Bundeskanzler Olaf Scholz in den letzten Wochen eingeschlagenen Kurs - Sanktionen gegen Russland, Waffenlieferungen an die Ukraine - begrüßt, war er enttäuscht, als Außenministerin Baerbock ankündigte, Energieimporte aus Russland "für immer" zu beenden. Kummer findet es wichtig, an die Zeit nach dem Krieg zu denken. Denn wo, sagt er, wäre Deutschland jetzt, wenn nach dem Zweiten Weltkrieg die Beziehungen zum Ausland nicht gekittet worden wären?
Schwierige Allianzen
Das ist auch die Grundüberlegung, die Weisskopf zur Ausrichtung der Veranstaltung bewogen hat. Er gibt sich die größte Mühe, sie so wenig kontrovers wie möglich zu halten: "Vielleicht bin ich da naiv, aber Russland ist für mich ein Teil Europas, und die Ukraine selbstverständlich auch, und ich bin überzeugt, dass man auf Dauer in Europa nur Frieden schafft, wenn man auch auf menschlicher Ebene kommuniziert", sagt CDU-Mann Weisskopf der DW.
Es mag verwundern, dass ausgerechnet die CDU, die besonders lautstark Waffenlieferungen für die Ukraine gefordert hat, ein derartiges Treffen organisiert. Doch CDU-Verbände in der früheren DDR haben es mit unbequemeren politischen Allianzen zu tun als ihre Parteifreunde im Westen. In Thüringen unterstützt die CDU inoffiziell eine von der Linken geführte Minderheitsregierung, da die Alternative wäre, ein Bündnis mit der AfD-Fraktion unter dem Vorsitz des Rechtsaußen Björn Höcke einzugehen.
Und obwohl es sich bei Kummer um einen alten CDU-Parteifreund handelt, ist sich Weisskopf bewusst, dass einige Mitglieder in Kummers Freundschaftsgesellschaft aus der ehemaligen Deutsch-Sowjetischen Gesellschaft stammen. "Natürlich sind da einige Alt-Kommunisten dabei gewesen", sagt er. "Aber darum ging's an dem Abend gar nicht. Für uns war nicht die Gesellschaft gebucht, sondern Dr. Kummer."
Moskau näher als Kiew?
Diese Bindungen sind stellenweise sichtbar auf der Webseite der Gesellschaft, die einige Begriffe von russischen Staatsmedien übernimmt. Die friedliche Maidan-Revolution in der Ukraine 2014 wird dort als "Putsch" bezeichnet, und die deutschen öffentlich-rechtlichen Medien werden beschuldigt, "Russophobie" und sogar Gewalt gegen ganz normale Russen in Deutschland anzufachen.
Am 9. Mai, an dem Russland traditionell den "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland feiert, veröffentlichte die Gesellschaft den vollständigen Text der Rede, die Präsident Wladimir Putin auf dem Roten Platz hielt - kommentarlos und ohne eine Einordnung. "Ich bin dafür, authentisch und vollständig zu veröffentlichen", sagt Kummer der DW dazu. "Ich halte nicht viel davon, dass man verkürzte Darstellungen macht und dann noch kommentiert." Um Propaganda handele es sich dabei nicht.
Warum scheute die Gesellschaft dann aber davor zurück, die Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zum "Tag des Sieges" ebenfalls zu veröffentlichen? "Die Rede hätten wir auch auf die Webseite stellen können, das Argument zählt", räumt Kummer ein. "Wir beanspruchen keine absolute Wahrheit. Wir sind ein ehrenamtlicher Verein, wir sind keine Agentur."
Alte Bindungen bestehen fort
"Für uns waren die NATO und der Westen der Feind", erinnert sich Kummer. "Ich hatte nicht wirklich Kontakte mit Russen, aber auch nicht mit den Amerikanern, Engländern und Franzosen." Immer noch vorhandenes Misstrauen gegenüber dem Westen und Sympathien für Russland sind bei vielen Umfragen zutage getreten, besonders in jenen, die vor der russischen Invasion der Ukraine durchgeführt wurden. Eine Forsa-Umfrage vom Juli 2021 ergab, dass 50 Prozent der ostdeutschen Bürger sich engere Beziehungen zu Russland wünschten. In Westdeutschland wollten das nur 25 Prozent. Derselben Umfrage zufolge waren nur 34 Prozent der Ostdeutschen für Wirtschaftssanktionen gegen Russland gegenüber 68 Prozent in Westdeutschland. Bei den Ansichten über Putin gab es eine größere Übereinstimmung: 60 Prozent der Ostdeutschen und 72 Prozent der Westdeutschen sahen in ihm einen Diktator.
Der Politikwissenschaftler Stefan Garsztecki von der TU Chemnitz sagt jedoch, diese Einstellungen hätten sich in den letzten Wochen geändert. "Seit Kriegsbeginn ist das schon fast nicht mehr zu hören. Vorher schon, da hat man gehört: 'Die Russen haben auch recht, die NATO ist wirklich immer näher an Russland rangekommen'", sagt er.
Es gibt historische Gründe dafür, dass Ostdeutsche über 50 gegenüber Russland eine gewisse Sympathie empfinden. Sie lebten in einem kommunistischen Land, das den Bürgern Freundschaft mit dem größten Land in der damaligen Sowjetunion praktisch zur Pflicht machte: Russisch wurde an Schulen gelehrt, und die russische Kultur war im Osten mindestens so gegenwärtig wie die amerikanische in Westdeutschland.
Ähnliche Erfahrungen nach der Wende
"Die älteren Menschen reden über die gemeinsame Erfahrung, viele haben auch tatsächlich Sowjetbürger kennengelernt. Das war für Westdeutsche nahezu ausgeschlossen. Das schafft eine Gemeinsamkeit, und ich glaube, dass das über ein Familiengedächtnis weitergegeben wird", sagt Garsztecki. Er glaubt auch, dass sich dieses Gefühl gemeinsamer Erfahrung in den 90er Jahren fortsetzte, als sowohl Russland wie auch Ostdeutschland Probleme hatten, mit ihren postkommunistischen Freiheiten zurechtzukommen.
"Die Transformation in Russland hat man sehr chaotisch wahrgenommen, ohne Regeln, und viele Ostdeutsche haben eine ähnliche Transformationserfahrung. Niemand in Ostdeutschland will die DDR zurück, das belegen alle Umfragen, aber man hat schon den Eindruck: Der Diskurs, die Vorgaben, das Muster - das alles kommt aus dem Westen. Und die älteren Ostdeutschen haben natürlich viel von ihrer gesellschaftlichen Stellung verloren."
Dieses Gefühl der Kränkung, von den westlichen Staaten nicht als gleichwertiger Partner behandelt zu werden, sei auch in Russland in den 90er Jahren sehr gegenwärtig gewesen, so Garsztecki.
Wirtschaftliche Abhängigkeit
Weniger emotional besetzt sind die Wirtschaftsbeziehungen, die Ostdeutschland stärker an Russland binden als an den Westen. 32 Jahre nach der Wiedervereinigung ist dort immer noch kein einziges DAX-Unternehmen angesiedelt. Auf der anderen Seite stehen wichtige wirtschaftliche Einrichtungen, die vom Handel mit Russland abhängen, wie die Gas-Pipeline Nord Stream an der Ostseeküste und die PCK-Raffinerie in Schwedt, die mehrheitlich dem russischen Ölkonzern Rosneft gehört.
Jede dieser Regionen wäre stark betroffen von einem gegen Russland verhängten Embargo für fossile Brennstoffe, das viele Europäer derzeit verlangen. Ein Déjà-vu-Erlebnis für viele Ostdeutsche, sagt Garsztecki: "Und dann hat man wiederum das Gefühl, 'Naja, wir haben in der Transformation ökonomisch gelitten, und jetzt dann nochmal.'"
Martin Kummer wiederum hat einiges erlebt, seit er Mitte der 90er Jahre das Amt des Vorsitzenden bei der Deutsch-Russischen Freundschaftsgesellschaft übernahm. Er erinnert sich, dass Alt-Kommunisten Verbände wie den seinen kapern wollten. Es waren viele darunter, die er persönlich kannte. "Wegen mir sind auch Leute ausgetreten", sagt er. "Sie wollten mit einem CDU-Mann nichts zu tun haben."
Aus dem Englischen von Werner Schmitz