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Akkordwechsel bei Orgelstück von John Cage

Elizabeth Grenier
4. September 2020

Eine Kirche in Sachsen-Anhalt ist zum Mekka der John-Cage-Fans geworden. Dort ist ein 639 Jahre dauerndes Orgelkonzert zu hören. Jetzt wechselt der Akkord.

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Halberstadt | 2013 versammelte sich eine Menschenmenge beim John-Cage-Orgel Kunstprojekt in der Burchardi-Kirche
Bild: picture-alliance/dpa/P. Förster

Eigentlich geht es nur um einen einfachen Tonwechsel, doch in der auf 639 Jahre ausgelegten Orgelaufführung "Organ2/ASLSP (As SLow aS Possible)" von John Cage wechseln die Akkorde nur alle paar Jahre. Und das ist dann jedes Mal ein viel beachtetes Ereignis, das Menschenmengen in die kleine Stadt Halberstadt in Sachsen-Anhalt lockt  - darunter viele Fans des aus den USA stammenden avantgardistischen Komponisten John Cage.

Beim letzten Akkordwechsel,  am 5. Oktober 2013, versammelten sich an die 1500 Leute rund um die Orgel in der Halberstädter St. Burchardi-Kirche. Schon damals empfand Rainer O. Neugebauer, der Kuratoriumsvorsitzende der John-Cage-Orgel-Stiftung, das Ganze als "viel zu voll" und "nicht mehr sicher". Schon lange vor Corona überlegten die Organisatoren des Projekts daher, wie sie den Zugang zu der kleinen Kirche begrenzen könnten, wenn der nächste Klangwechsel ansteht.

Am Samstag (5. September 2020) ist es nun soweit. Die Musiker Johanna Vargas und Julian Lembke  - beide gewannen in der Vergangenheit den John-Cage-Preis - werden zwei neue Orgelpfeifen in Betrieb nehmen. Es darf jedoch nur eine begrenzte Anzahl an Menschen in die Kirche hinein. Für die nächsten 2527 Tage werden dann dank Sandsäcken, die die Tasten herunterdrücken, ein "gis" und ein "e" auf der Orgel erklingen.

Besucher in Halberstadt erwünscht - trotz Pandemiebeschränkungen

Damit weitere Interessierte dennoch am Event teilnehmen können, wird es vor der Kirche eine Videoübertragung geben. Im Anschluss an den Klangwechsel dürfen Kleingruppen dann auch zur Orgel. Und wer es diesmal nicht schafft: Keine Sorge, das Konzert dauert ja noch bis zum Jahr 2640.

Allerdings funktioniert das natürlich nur, wenn sich genügend Leute finden, die die Herausforderung annehmen, das Konzert über die nächsten sechs Jahrhunderte am Laufen zu halten. Und wenn es genügend Gelder gibt, um die Kosten der Aufführung zu decken. Die öffentliche Hand war bisher nicht sonderlich interessiert daran, sich an dem Projekt zu beteiligen, dennoch sei es ein "Projekt der Hoffnung", sagt Neugebauer.

Halberstadt | Rainer O. Neugebauer steht vor seiner Bibliothek
Rainer O. Neugebauer: Kuratoriumsvorsitzender der John-Cage-Orgel-Stiftung HalberstadtBild: picture-alliance/dpa/K.-D. Gabbert

Wie langsam ist "so langsam wie möglich"? Eine philosophische Frage

Doch wie kam es überhaupt dazu, dass dieses Ultra-Langzeitprojekt in Halberstadt angesiedelt ist, einer Stadt, die 200 Kilometer südwestlich von Berlin liegt? 1985 komponierte John Cage ein Werk, das "ASLSP" heißt. Dieser Titel steht nicht nur für "As Slow(ly) and Soft(ly) as Possible", sondern er ist auch eine Hommage an ein Zitat aus einem anderen Werk der Avantgarde: James Joyces Roman "Finnegans Wake", in dem es heißt: "Soft morning city. Lsp!".

Auf Bitten des deutschen Organisten Gerd Zacher adaptierte Cage die Komposition 1987 für die Orgel. Normalerweise dauern Aufführungen des Stücks zwischen 20 und 70 Minuten. Doch der Komponist gab niemals exakt an, wie langsam es denn tatsächlich gespielt werden solle. Bei einem Orgelsymposium in Trossingen, in Südwestdeutschland, brüteten 1998 - sechs Jahre nach Cages Tod - einige Musikwissenschaftler, Philosophen und Orgelbauer über die unbeantwortete Frage.

Die Noten zum John-Cage-Orgel-Kunstprojekt in Halberstadt
In Halberstadt erklingt ein Akkord aus "Organ2/ASLSP" mehrere Jahre langBild: picture-alliance/dpa/J. Wolf

Während auf einem Klavier Klänge nicht ewig ertönen, kann der Ton auf einer Orgel so lange andauern, wie die Tasten gedrückt bleiben. Und weil eine gut gewartete Orgel für immer existieren kann, könnte Cages Stück auch entsprechend lang gespielt werden. Man war sich daher einig, dass das Werk zum Beispiel auch für 1000 Jahre aufgeführt werden könnte - eine Zahl, die aufgrund der Pläne vom 'tausendjährigen Reich' der Nazis jedoch sehr schnell wieder verworfen worden sei, wie Neugebauer sagt. "Das wäre nicht ganz politically correct."

Halberstadt  - die Heimat einer berühmten Orgel

Einer der Symposiums-Teilnehmer wusste von einer verlassenen romanischen Kirche in Halberstadt. 1810 entweiht, wurde die St. Burchardi Kirche unter anderem über die Jahre als Schnapsbrennerei und Schweinestall genutzt.

Musik-Enthusiasten war zudem bekannt, dass der Dom zu Halberstadt das Zuhause einer sehr berühmten Orgel ist. Geschaffen wurde sie 1361 von Nicolaus Faber - vermutlich war sie die erste mit einer Tastatur "wie wir sie heute kennen, also mit der Einteilung der Oktave in zwölf Halbtöne", so Neugebauer. Das Jahr 1361 wurde vom Jahr 2000, der Jahreszahl des neuen Jahrtausends, abgezogen. Heraus kamen die Jahre der Aufführung: 639 an der Zahl.

John Cages Klang der Stille

John Cage-Projekt "Organ2/ASLSP" in der Burchardi-Kirche in Halberstadt
Die Orgel in der Burchardi-Kirche, die 639 Jahre klingen sollBild: picture alliance/ZB

Die Aufführung begann am 5. September 2001; jenem Tag, an dem John Cage 89 Jahre alt geworden wäre. Die erste Töne waren allerdings erst am 5. Februar 2003 zu hören, da das Konzert mit einer einige Monate dauernden Pause startete, was Cages Auffassung widerspiegelt, dass die Stille ebenfalls mit Klang gefüllt ist.

Man denke an das Stück "4'33": Der Titel entspricht der Dauer (also vier Minuten und 33 Sekunden), die Aufführende an ihrem Instrument verbringen sollen, ohne es zu spielen. Das erlaube den Zuhörenden, sich für diese Zeit auf die Geräusche in ihrer Umgebung zu konzentrieren.

Als Schüler des in Österreich geborenen modernen Komponisten Arnold Schönberg bahnte Cage den Weg für die Idee, dass neue Musik von musikhistorischen Referenzen und von den eigenen Neigungen und Abneigungen des Komponisten frei sein sollte. Um dies zu erreichen, benutzte er zur Komposition vieler seiner Werke das "I Ging", ein altes chinesisches, orakelhaftes Buch und später Computeralgorithmen.

John Cages Innovationen leben auch nach seinem Tod weiter

John Cage
John Cage (1912 -1992) definierte die Bedeutung von Musik neuBild: picture-alliance/dpa

Auf Cage geht zurück, dass er die Musik in eine "offene" Kunstform transferiert hat. Seine unorthodoxe Herangehensweise an Klänge hat noch heute Einfluss auf zahlreiche Musiker, Künstler und Denker.

Sogar Menschen, die mit dem Komponisten nicht vertraut sind, sind fasziniert von dem auf 639 Jahre angelegten Projekt: "Wir haben keine Zeit, wir haben Termine, morgens müssen wir immer die E-Mails checken und die Nachrichten, damit wir auf dem letzten Stand sind. Und da machen Leute etwas, das über die Lebenszeit hinausgeht, wo sich nichts bewegt, wo selbst der Klang sich nicht groß ändert",erläutert Neugebauer das Projekt und fügt hinzu: "Was die meisten Leute fasziniert, ist der Umgang mit der Zeit."

Die Aufführung hält viel Zeit bereit, um über ihre symbolische und philosophische Bedeutung zu meditieren. John Cage, der zwar nicht religiös war, aber Inspiration im Zen Buddhismus fand, hat das Konzert gewiss nicht auf diese Weise geplant. Ganz im Gegenteil: Sein Werk war eine "Erkundung der Absichtslosigkeit". 

Adaption: Verena Greb