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Oleg Sentsovs "zufälliger" Film von der Ukraine-Front

Scott Roxborough
27. Juni 2024

Der Regisseur Oleg Sentsov nimmt die Zuschauer in seinem packenden Film "Real" mit in die ukrainischen Schützengräben, nachdem er unwissentlich seine Helmkamera eingeschaltet hat.

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Ein Soldat steht in einem Schützengraben
Ein Standbild aus Oleg Sentsovs "Real" vermittelt den Zuschauern die Realität des Krieges Bild: Cry Cinema

Oleg Sentsov kämpfte bereits gegen Moskau, bevor er sich kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 den Verteidigungskräften anschloss. Nur hatte er bis dahin statt einer Waffe seine Kamera benutzt.

Als die russischen Streitkräfte 2014 auf der Krim einmarschierten, war Sentsov vor Ort und dokumentierte die Annexion der Region.  Er wurde verhaftet, nach Russland überstellt und wegen "Planung von Terrorismus" zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Ein Mann schaut durch Gitterstäbe
2015 wurde Sentsov auf der Krim vom russischen Sicherheitsdienst FSB verhaftet, weil er angeblich eine Gruppe von Saboteuren gegründet hatte Bild: SERGEY VENYAVSKY/AFP/Getty Images

Nach einer konzertierten Aktion der Europäischen Filmakademie, Amnesty International und des Europäischen Parlaments, die von Regisseuren wie Ken LoachPedro Almodóvarund Agnieszka Holland unterstützt wurde, kam Sentsov schließlich am 7. September 2019 im Rahmen eines ukrainisch-russischen Gefangenenaustauschs frei. Im November 2019 konnte der ukrainische Filmemacher und Menschenrechtsaktivist den Sacharow-Preis für geistige Freiheit entgegennehmen, mit dem ihm das Europäische Parlament 2018 ausgezeichnet hatte . Der nach dem russischen Dissidenten Andrej Sacharow benannte Preis ehrt Menschen, die "ihr Leben der Verteidigung der Menschenrechte und der Gedankenfreiheit gewidmet haben".

Ein Mann macht das Victory-Zeichen und nimmt eine Tafel mit Auszeichnung von einem lächelnden Mann entgegen
Oleg Sentsov war Preisträger des Sacharow-Preises 2018, konnte seinen Preis aber erst 2019 persönlich entgegennehmenBild: FREDERICK FLORIN/AFP/Getty Images

Auch hinter Gittern arbeitete Sentsov weiter. In geheimen Briefen, die sein Anwalt aus dem Gefängnis schmuggelte, inszenierte er den Film "Numbers", eine Adaption seines eigenen Theaterstücks über das Leben in einem dystopischen und völlig absurden autoritären Staat, der 2020 auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Die Parallelen zu Sentsovs eigenem Leben waren unübersehbar.

Doch Sentsov ist kein unverbesserlicher Nationalist. Sein Spielfilm "Rhino" aus dem Jahr 2021, der bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere feierte, wirft einen Blick auf das Chaos, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Ukraine herrschte, und wie Kriminalität und Korruption das entstandene Machtvakuum füllten.

Fünf Männer stehen vor einem brennenden Gebäude
Rhino: ein Film über Gewalt und KorruptionBild: Yuriy Grigorovich

"Live" aus dem Schützengraben

"Real" jedoch ist anders als seine vorherigen Filme. Er beginnt ohne Vorwarnung. Wir befinden uns plötzlich in einem Schützengraben und hören über Funk die verzweifelte Stimme eines Soldaten in einem anderen Graben. Er wird von russischen Truppen angegriffen und braucht dringend Verstärkung. Die Stimme neben uns ist die von Sentsov, Spitzname "Grunt", der versucht, die Evakuierung der unter Beschuss stehenden Truppen und den Nachschub für seine Einheit zu organisieren. Die Munition geht zur Neige und die russischen Truppen, im Funk einheitlich "F**ker" genannt, rücken immer näher.

"Es war einer dieser sehr langen Tage. Er war Teil der lang erwarteten ukrainischen Gegenoffensive im vergangenen Sommer", erzählt Sentsov im Interview mit der Deutschen Welle. "Wir haben fast zehn Tage lang versucht, die russische Verteidigungslinie zu durchbrechen. Wir haben Ausrüstung und Waffen verloren. Aber wir waren immer noch am selben Ort. Es war offensichtlich, dass wir viele Menschen, Waffen, Fahrzeuge und alles verloren hatten. Aber selbst in diesem Moment hatten wir uns den Glauben bewahrt, dass wir etwas tun konnten."

Sentsovs Einheit war tief in feindliches Gebiet geschickt worden, ihr gepanzerter Truppentransporter wurde jedoch getroffen, die Soldaten mussten zu Fuß fliehen. Sentsov fand sich mit einer Handvoll Kameraden in einem Schützengraben wieder. Andere Einheiten waren durch feindliches Feuer eingekesselt und hatten keine Munition mehr. "Sie waren fast vollständig vom Feind umgeben, und ich war der Einzige, der Kontakt zu ihnen hatte und den höheren Befehlshabern Bericht erstatten konnte", sagt Sentsov.

Die Kamera war nur zufällig an

"Real" spielt in einer einzigen, ungeschnittenen Einstellung - eineinhalb Stunden lang -, während Oleg Sentsov immer wieder zwischen den Einheiten und dem Hauptquartier hin und her telefoniert und versucht, den Nebel des Krieges zu durchdringen und den Soldaten Hilfe zu bringen, bevor es zu spät ist. Wir sehen alles durch Sentsovs Augen, genauer: durch das Objektiv seiner Helmkamera.

Der Regisseur wollte eigentlich gar nicht filmen. Er schaltete die Kamera versehentlich ein, als er seine Ausrüstung überprüfte. Erst Wochen später, nach der Schlacht, entdeckte er das Filmmaterial auf der Speicherkarte der Kamera.

"Zuerst dachte ich, dass es sehr beliebig aussieht, dass es niemanden interessieren würde, und ich wollte es löschen", sagt er im DW-Gespräch. "Aber dann fing ich an, es mir genauer anzuschauen, und mir wurde klar, oh mein Gott, das ist ein Teil eines sehr tragischen Ereignisses, mit so vielen Menschen in den Schützengräben, abgeschnitten und von den Russen umzingelt. Unsere Freunde, meine Freunde. Die Menschen, die diesen Film sehen werden, werden vielleicht nie diese Soldaten und diese Situationen zu Gesicht bekommen, aber sie können sehen, wie dramatisch es war. Sie werden einen der schrecklichsten Tage der ukrainischen Gegenoffensive erleben."

Keine filmischen Stilmittel

"Real" kommt ohne die stilistischen Schnörkel aus, die Sentsov in seinen bisherigen Filmen benutzte. "Rhino" von 2022, der in den USA den Untertitel "Ukranian Godfather" trägt, ist ein raffinierter Gangsterthriller, der sich stark an den Filmen von Martin Scorsese und Francis Ford Coppola orientiert. Er erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines gewalttätigen Kriminellen des titelgebenden Rhino - im Chaos der post-sowjetischen Ukraine der 1990er-Jahre. 

"Numbers" von 2020, das auf einer einzigen Bühne spielt, erinnert an den theatralischen Minimalismus von Lars von Triers "Dogville" oder an Stücke von Bertolt Brecht.

In "Real" hat der Regisseur kein einziges Mal Hand angelegt. Kein Schnitt, keine Musik, keine Soundeffekte. Nichts wird über das hinaus erklärt, was wir in Echtzeit auf der Leinwand sehen und hören. 

"Deshalb bezeichne ich es nicht als Film, nicht einmal als Dokumentarfilm, sondern als reines Dokument", sagt Sentsov. "Es ist ein Videodokument, das einen sehr kleinen Einblick in den Krieg gibt. Aber dieses Kriegsdokument, das mit der Kamera aufgenommen wurde, zeigt uns wirklich, wie grausam, wie dumm und - mir fehlen die Worte, um es zu beschreiben, wie sinnlos der Krieg ist.... Man bekommt eine ganz andere Vorstellung vom Krieg, wenn man ihn nur aus Kriegsfilmen kennt oder aus Dokumentationen, die so geschnitten sind, dass sie vorzeigbar sind. Da gibt es immer diese heroische Komponente, jeder will das betonen, dynamische, heroische Aktionen zeigen. Aber der wirkliche Krieg ist ganz, ganz anders."

Sentsov nennt "Real" eine "überwältigende Erfahrung. Man wird hineingeworfen und beginnt erst langsam zu verstehen, was vor sich geht. Es zieht einen wirklich in den Graben hinein."

Ein Mann mit Miltärkappe steht im Wald
Oleg Sentsovs Heimat ist die Krim, seit 2014 in russischer Hand Bild: MIGUEL MEDINA/AFP

Kriegsfilm ohne Action

Wer Action erwartet, wird enttäuscht. Stattdessen ist man gezwungen, mit der Truppe im Schützenloch zu warten, ohne zu wissen, was um einen herum passiert und wann der Feind angreifen wird. "Real" fängt die Spannung, die Langeweile und den Schrecken des Krieges gleichermaßen ein.

"Als ich jung war, habe ich den Film 'Platoon' von Oliver Stone gesehen, und in einer Szene sagt einer der Soldaten: 'Vergesst das Wort Held. Es gibt nichts Heldenhaftes im Krieg", sagt Sentsov. "Damals konnte ich das nicht verstehen, weil ich mit Filmen aufgewachsen bin, die eine ganz andere Vorstellung vom Krieg vermittelten. Jetzt, nach zweieinhalb Jahren in einem echten Kampfgebiet, muss ich sagen, dass ich dem jungen Mann im Film voll und ganz zustimme."

"Die Realität ist schmerzhaft"

Sentsov räumt ein, dass die "Wahrheit", die er in seinem Film zeigt, für viele Menschen, vor allem in der Ukraine, schmerzhaft sein könnte. Nachdem die russische Gegenoffensive im Sommer gescheitert ist, ist der Konflikt zu einem brutalen Zermürbungskrieg geworden.

Ein Mann steht neben einer Verteidigungsmauer aus Steinen und Säcken vor einem Gebäude
Oleg Sentsov meldete sich freiwillig, um seine Heimat zu verteidigenBild: FADEL SENNA/AFP

"Es gibt viele Dinge über die Situation, über die Realität des Krieges, über die wir hier in der Ukraine nicht sprechen", sagt Sentsov der DW. "Wenn mich jemand fragen würde, wie lange es dauern wird, die Kontrolle über die Grenzen von 1991 wiederherzustellen und Russland militärisch zu besiegen, würde ich sagen, dass es vielleicht zehn Jahre dauern könnte, aber das wäre ein Wunder.

Anstatt so zu tun, als gäbe es die Realität nicht, so Sentsov, wäre es für die Ukraine und die Welt besser, "der Wahrheit ins Auge zu blicken, so schmerzhaft sie auch sein mag. Andernfalls werden wir unser ganzes Leben in einer Illusion verbringen, die nichts mit der Realität zu tun hat, mit der wirklichen Situation, die vor uns liegt."

"Real" feiert am 30. Juni 2024 beim Internationalen Filmfestival im tschechischen Karlsbad Premiere.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in englischer Sprache. Adaption: Silke Wünsch