"Ohne Mann bist du in Indien ein Niemand"
8. März 2018DW: Frau Elizabeth, wie lässt sich die Rolle der Frau in Indien charakterisieren?
V. S. Elizabeth: Die Rolle der Frau in Indien hängt stark von der Region, der sozialen Schicht, der Kastenzugehörigkeit und oftmals auch der Religion ab. Frauen aus der Mittelschicht haben inzwischen sowohl in bildungstechnischer als auch in beruflicher Hinsicht viele Chancen. Wenn man aber seinen Blick auf die niedrigeren Kasten und Gesellschaftsschichten richtet, bekommt man ein ganz anderes Bild. Denn die Frauen aus dieser Bevölkerungsgruppe müssen schwerste Arbeiten verrichten und haben nur selten die Freiheit, sich auch außerhalb ihrer Arbeitsstätte und ihrem Wohnhaus frei bewegen zu können. Unter der Gewalt gegen Frauen leidet diese Gesellschaftsgruppe am schwersten.
Inzwischen haben die Frauen aus der Mittelschicht viele Hürden überwunden. Viele von ihnen arbeiten im Industrie- und Dienstleistungssektor. Aber immer noch liegt der Frauenanteil an der arbeitenden Bevölkerung nur zwischen 25 und 35 Prozent. Zudem arbeiten 90 Prozent der Frauen in Branchen, wo man sich kaum an Regeln hält. Den übrigen 10 Prozent aus der Mittelschicht geht es hingegen relativ gut. Aufgrund ihrer guten Bildung sind sie in guten Positionen. Lediglich ein Aufstieg in die Führungspositionen bleibt den meisten von ihnen verwehrt.
Warum sind die Frauen in Indien in dieser benachteiligten Rolle?
Das hat vor allem mit dem immer noch bestehenden Kastensystem zu tun. Außerdem wurde durch die Industrialisierung und dem vermehrten Kapitalismus die Herrschaft der Männer über das Sozialwesen wieder verstärkt. Viele der Freiheiten, die vor der Kolonialisierung bestanden, wurden uns während der Herrschaft der Kolonialmacht genommen. Die Briten haben die altertümlichen Werte des alten Hinduismus wieder eingeführt. Nach der Unabhängigkeit Indiens wurden viele Gesetze erlassen, um die Rechte aus der Zeit davor wieder herzustellen. Aber in der Praxis wird das meiste davon nicht eingehalten. Es geht dabei zum Beispiel um Eigentums- und Besitzrechte, das Recht, sich scheiden zu lassen, oder aber auch das grundlegende Recht auf ein unabhängiges und freies Leben.
Warum wünschen sich viele werdende Eltern nur Jungen, nicht aber Mädchen?
Die Gründe dafür liegen in der indischen Kultur. Während wir wirtschaftlich Fortschritte gemacht haben, herrschen in kultureller und sozialer Hinsicht immer noch die Werte aus der Zeit vor der Unabhängigkeit. Unter Hindus werden Söhne bevorzugt, weil nach den Grundsätzen der Religion ein Sohn benötigt wird, um verschiedene Rituale zu erfüllen. Zweitens ist die indische Gesellschaft patriarchalisch geprägt und so ist es von hoher Bedeutung, dass ein Sohn den Namen der Eltern weiter trägt. Das ist auch der Grund dafür, warum viele Hindufamilien einen Sohn adoptieren. Der dritte Punkt ist die immer noch übliche Mitgift. Wenn man seine Tochter verheiratet, müssen viel Geld und andere Vermögensgegenstände an die Familie des Bräutigams gegeben werden. Das ist für viele eine sehr teure Angelegenheit. Neben Geld geht es auch um Häuser, Ländereien, schicke Autos und mehr.
In Indien gibt es eine bekannte Redewendung für den Begriff der sexuellen Belästigung: das "Eva Necken". Warum ist dieser Euphemismus gefährlich?
Weil er das Ganze so erscheinen lässt, als wäre es eben nur ein gewisses Necken, das rein aus Spaß geschieht und keinesfalls eine böse Absicht impliziert. Und die Auswirkungen der Taten auf die Frauen wie zum Beispiel die Ängste, die dadurch entstehen, werden vollkommen ignoriert. Auch die Einschränkungen, denen sich die Frauen aus Selbstschutzgründen unterwerfen, bleiben unbeleuchtet. Und genau diese Art von Haltung ist zu einem guten Teil dafür verantwortlich, wie weit verbreitet sexuelle Belästigung in Indien ist. Denn die Menschen nehmen es einfach nicht ernst.
Gewalt gegen Frauen ist ein weltweites Problem, das bisher noch nicht gelöst werden konnte. In Indien gibt es aufgrund der mangelnden Sicherheit teilweise sogar separate Zugabteile für Frauen. Was sind die Gründe für das in Indien so große Problem rund um die Gewalt gegen Frauen?
Es geht dabei um die fehlende Wichtigkeit, die den Mädchen und Frauen zugemessen wird. Sie werden zu Objekten gemacht, und nicht als menschliche Wesen behandelt. Und deshalb ist es für die Täter so einfach. Die Frauen haben keinen Wert. Frauen werden so erzogen, dass sie sich selbst nur als Töchter, Schwestern oder Mütter wahrnehmen. Niemals sind sie die spezifische Person, die sich hinter ihrem eigentlichen Namen verbirgt. Du bist ein Niemand, wenn du nicht verheiratet bist, du keinen Vater, Bruder oder Sohn hast.
Was hat sich in Indien verändert, nachdem 2012 eine Gruppenvergewaltigung in Delhi weltweit für Schlagzeilen sorgte?
Noch mehr als der internationale Druck war es der Druck, der in der indischen Hauptstadt selbst aufkeimte. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit gab es eine zivilgesellschaftliche Bewegung in Delhi. Das war auch der Grund dafür, dass die Regierung so schnell reagierte und im März 2013 erste Gesetzesänderungen erlassen wurden, die unter anderem die Bedeutung des Begriffs der Vergewaltigung erweitert haben. Auf rechtlicher Ebene haben sich danach auch viele weitere Veränderungen ergeben. Aber im realen Leben hat sich gar nichts verändert. Die Gewalt gegen Frauen geht weiter, es gibt weiterhin sexuelle Belästigung, die Verurteilungsraten sind niedrig und es werden nur selten Anzeigen erstattet.
Warum erstatten so wenige Frauen Anzeigen?
Es geht einfach darum, dass die Frau nicht dazu ermächtigt ist, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Ihre Familie würde sie unter Druck setzen, weil die Frau bei Gewalt ihr gegenüber immer noch nicht als Opfer angesehen wird. Wenn die Tat öffentlich wird, gilt das als Gesichtsverlust der Familie und als große Schande. Der zweite Grund ist das mangelnde Vertrauen in die Polizei. Die Polizisten kommen eben auch aus dem gleichen gesellschaftlichen System und nehmen Anzeigen nur widerwillig entgegen. Insbesondere gilt das, wenn es sich um Anzeigen wegen sexueller Belästigung durch Männer der oberen Kasten gegenüber Frauen aus den unteren Kasten handelt. Die Polizisten scheinen nicht zu begreifen, dass es das gute Recht jeder Frau ist, sich alleine in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Wenn sie sich in der Öffentlichkeit aufhält, so die weitverbreitete Meinung, sollte sie immer gemeinsam mit ihrem Ehemann, ihrem Vater oder ihrem Bruder unterwegs sein. Die Frau, die alleine in der Öffentlichkeit unterwegs ist, sei keine gute Frau und habe ihr Leid selbst zu verantworten, wenn ihr etwas zustößt. Denn auf gewisse Art und Weise habe sie selbst für dieses Leid gesorgt, sogar wenn sie noch ein junges Mädchen ist.
Feminismus und der gesellschaftliche Status der Frau stehen durch die #MeToo-Debatte seit dem vergangenen Sommer wieder verstärkt im gesellschaftlichen Fokus. Was für Auswirkungen hatte die Debatte in Indien?
#MeToo hatte eine ähnlich große Wirkung in Indien wie auch überall anders. Die Menschen haben endlich darüber geredet, welches Leid ihnen zugefügt wurde. Dabei wurde sogar oft die Identität der Täter preisgegeben. Egal, ob es Täter aus dem sozialen Umfeld, der Familie oder Unbekannte waren.
Aber wer hat in Indien schon Zugang zu sozialen Medien? Das ist nur die gut gebildete Mittelschicht, die nur einen kleinen Anteil an der großen Bevölkerung Indiens ausmacht. So hat die ganze Kampagne nur einen kleinen Teil der Inder erreicht. Aber diese kleine Gruppe an Frauen wird nun selbstsicherer und zuversichtlicher. Sie verstehen, dass es nicht ihr Fehler beziehungsweise ihre Schuld ist. Deshalb sollten wir weiter darüber reden und das Thema nicht weiter verstecken. Aber auf lange Sicht und für eine noch größere Wirkung braucht es noch mehr als eine Kampagne in den sozialen Medien.
V.S. Elizabeth ist Dozentin an der National Law School of India University in Bangalore und Mitglied in der Indischen Gesellschaft für Frauenstudien. Sie unterrichtet ausschließlich aus einer feministischen Perspektive, um die Vorurteile gegenüber Frauen aus den Köpfen ihrer Studierenden verschwinden zu lassen und das Verhalten von Männern gegenüber Frauen zu verändern.
Das Gespräch führte Marla Mies.